- Im umstrittenen Extremismus-Verfahren gegen den inhaftierten Kremlgegner Alexej Nawalny ist der erste offizielle Prozesstag angesetzt.
- Das Moskauer Stadtgericht tagt nach Angaben von Nawalnys Anwältin in einem Straflager rund 260 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt im Gebiet Wladimir.
- Dem prominentesten Gegner Putins, der zurzeit eine neunjährige Haftstrafe absitzt, drohen weitere 30 Jahre Lagerhaft.
- Das Verfahren findet wegen «angeblicher Sicherheitsbedenken» unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, wie der Richter begründete.
Bei den Vorwürfen geht es vor allem um Nawalnys Stiftung für Korruptionsbekämpfung. Die Organisation war von Russland vor zwei Jahren offiziell zur extremistischen Organisation erklärt worden. Zu diesem Zeitpunkt war Nawalny bereits im Gefängnis.
Nun wird ihm vorgeworfen, eine extremistische Organisation gegründet und extremistische Tätigkeiten finanziert zu haben. Es werden ihm also rückwirkend Tätigkeiten zum Vorwurf gemacht, die zum Zeitpunkt, als Nawalny ihnen noch nachgegangen war, völlig legal waren.
Der Kreml testet dieses neue Instrument, um potenziell seine gesamte Gegnerschaft für schon lange vergangene Aktivitäten zu verurteilen.
Nawalny sitzt bereits eine langjährige Haftstrafe ab. Warum das russische Regime erneut auf Nawalny abzielt, ist schwierig zu durchschauen. Aber die jahrzehntelangen Haftstrafen sind Teil eines Musters der neuen Repression in Russland seit dem Grossangriff auf die Ukraine, wie SRF-Russland-Korrespondent Calum MacKenzie erklärt: Auch andere Oppositionelle und Medienschaffende wurden zu langen Gefängnisstrafen verurteilt, was zuvor eher unüblich war.
Feindbild Nawalny
Nawalny stellt für die russische Machtelite ein besonderes Feindbild dar, weil er deren Korruption beleuchtet hat. Es ist aber auch offensichtlich, dass die Behörden die neuen rückwirkenden Urteile austesten wollen.
So war vergangene Woche bereits eine Wahlkampfleiterin Nawalnys zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Ein Gericht in der Stadt Ufa am Ural befand Lilia Tschanyschewa am Mittwoch unter anderem der Schaffung einer «extremistischen Organisation» für schuldig, obwohl die Organisation damals gar nicht als extremistisch gegolten hatte.
Nawalny hält seit seiner Verhaftung in Moskau im Januar 2021 die Vollzugsbehörden auf Trab. Er hat Klagen gegen die Misshandlungen im Gefängnis eingereicht und zieht die Schikanen der Behörden auch ins Lächerliche. So beantragte er beispielsweise ein Känguru oder eine Balalaika für seine Zelle.
Verblasst die Leuchtfigur?
Nawalny meldet sich über seine Anwälte zwar regelmässig mit politischen Äusserungen in der Öffentlichkeit, scheint aber trotzdem ein wenig in Vergessenheit zu geraten: Seine Organisation und sein Netzwerk sind in Russland zerschlagen. Seine Anhängerinnen und Anhänger im Exil haben einen schweren Stand.
Letztlich ist sein Einfluss doch sehr eingeschränkt. Mit seiner Rückkehr nach Russland und seiner Inhaftierung habe er sich viel Respekt verschafft, aber langfristig könnte sein Stern in der russischen Opposition sinken, schätzt MacKenzie.
Straflager heisst systematische Schikane
Vor zwei Monaten wurde der Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa zu 25 Jahren Haft verurteilt. Wieder ein Putin-Gegner, der im Gefängnis bleibt, bis er stirbt oder bis Putins Regime fällt – so lautete etwa damals ein Kommentar.
Kara-Mursa und Nawalny werden im Straflager systematisch schikaniert. Ihnen wird oft auch medizinische Hilfe verwehrt. Man sieht ihnen an, dass ihre Gesundheit sehr gelitten hat. Kara-Mursa etwa nahm in einem Jahr Untersuchungshaft 17 Kilogramm ab.