In der Markthalle von Tver ist es ruhig an diesem kalten Morgen. Die Verkäuferinnen der Fleischabteilung langweilen sich hinter fein säuberlich aufgestapeltem Speck. Einzig beim Honigstand ist etwas los. Ein paar Männer um die 50 oder älter stehen zusammen. Ein Interview? Über Nawalny? Auf keinen Fall! Man lebe schliesslich in einem «totalitären Staat», sagt einer. «Da schweigen wir lieber.»
Doch wie so oft in Russland kommt man dann doch ins Reden – und das mit dem Interview geht schliesslich in Ordnung. Ob sie Nawalnys Film über den märchenhaften Palast am Schwarzen Meer gesehen hätten, der Putin gehören soll?
Ja klar, erzählt ein Rentner, der gerade einen riesigen Topf Honig gekauft hat. «Und natürlich gehört der Palast Putin – nicht offiziell, aber er war dort, ist mit seiner Jacht hingefahren. Allerdings frage ich mich schon: warum wohnt die deutsche Kanzlerin in einer ganz normalen Wohnung?»
Der Honigverkäufer sieht das so: «Putin ist unser Präsident. Ich habe nichts dagegen, dass er so einen Palast hat. Immerhin ist er das Oberhaupt unseres Staates.» Der Rentner wirft ein: Ein Palast sei schon ok, aber nur, wenn das Geld ehrlich verdient sei. Und das sei wohl eher nicht der Fall.
Immerhin soll der Palast eine Milliarde Dollar gekostet haben. Das einfache Volk hingegen, da ist sich die Runde auf dem Markt einig, lebt auf ganz anderem Niveau. Viele Ältere müssten mit umgerechnet 150 Franken Rente auskommen.
Die Leute sind nicht wegen Nawalny an die Demos gegangen. Sie sind hingegangen, um für sich zu protestieren.
«Von der monatlichen Rente hol ich mir jetzt Honig, den ich dann einen Monat lang esse», sagt einer. Ein Marktmitarbeiter kommt dazu und mischt sich ein. «Es gab ja bei uns diese Demo. Aber die Leute sind da nicht wegen Nawalny hingegangen. Die Leute sind hingegangen, um für sich zu protestieren.»
Seit Jahrzehnten hat es in Tver keine grossen Demos mehr gegeben. Bis am 23. Januar. Damals versammelten sich 3000 Menschen in der historischen Altstadt. «Ich habe ein Feuer gesehen in den Augen, die Leute glaubten, sie könnten etwas verändern im Land», sagt die unabhängige Reporterin Daria Samarina.
Sie sitzt in einem Pub, nippt an einem Bier und erinnert sich: «Am 31. Januar gab es eine zweite Demonstration. Und da war eine ganz andere Stimmung. Die Leute haben gesehen, wie hart die Staatsmacht durchgreifen kann. Es gab viele Festnahmen, sogar Journalisten wurden mitgenommen.» Auch Samarina sass einige Stunden auf einer Polizeiwache.
Viele Leute würden durch die Härte abgeschreckt – und überlegten sich das nächste Mal zweimal, ob sie an einem Protest teilnehmen, vermutet die Journalistin. Eine solche Risikoabwägung hat Anton Pavlov schon gemacht. Er ist der Wirt des Pubs, hat sich an den Tisch dazugesetzt.
Er sei nicht an die Demos gegangen, erzählt Pavlov. «Dabei wäre ich eigentlich gerne dabei gewesen. Nicht wegen Nawalny. Der ist bloss ein Katalysator. Die meisten Leute waren auf der Strasse, weil sie genug haben von dieser Staatsmacht. 20 Jahre schon ist Putin an der Macht, da bekommt man ja politische Klaustrophobie.»
Man muss aber auch sagen: 3000 Demonstrierende sind für Tver dann nicht so viel. Nicht mal ein Prozent der Bevölkerung. Die meisten blieben zu Hause. Da spiele die russische Mentalität wohl mit eine Rolle, so Pavlov. «Da gibt es so eine Verklemmtheit. Diese Haltung, es bringe sowieso alles nichts.» Dazu komme: Russland sei ein grosses Land – träge und unbeweglich wie ein Dinosaurier. Wenn am Schwanz geknabbert wird, spürt das Hirn keinen Schmerz.