Was ist passiert? Die Ukraine hat an ihrer Ostfront einen seit mehr als zwei Jahren verteidigten Vorposten verloren: die Bergarbeiterstadt Wuhledar. Die ukrainische Armee bestätigte den Rückzug aus der stark zerstörten Stadt im Gebiet Donezk, die vor dem Krieg knapp 15’000 Einwohner hatte. Im Fall Wuhledar versuchte die russische Armee seit langem vergeblich, die Stadt einzunehmen, erlitt aber mehrmals hohe Verluste. Zuletzt gelang es den russischen Truppen, die zur Festung ausgebaute Stadt im Osten und Westen zu umgehen und nahezu einzukreisen.
Warum ist Wuhledar so wichtig? Die Gründe sind geographischer, strategischer und symbolischer Natur.
- Russland hat die Region Donezk im Herbst 2022 einseitig annektiert. Für die Regierung in Moskau ist die Kontrolle über Wuhledar ein wichtiger Schritt zur Eingliederung der gesamten Region Donezk in Russland.
- Die Kontrolle über die Stadt ist für beide Seiten wichtig wegen ihrer Lage auf erhöhtem Gelände inmitten einer Ebene.
- «Die Stadt bildet einen Art Dreh- und Angelpunkt, welcher die Südfront mit der Ostfront verbunden hat», erklärt Marcel Berni, Strategieexperte an der Militärakadamie der ETH Zürich. Solange ukrainische Kräfte die volle Kontrolle über Wuhledar hatten, konnten sie die Stadt als Plattform nutzen, um russische militärische Versorgungslinien in der Gegend zu beschiessen.
- Die Stadt liegt in der Nähe einer Bahnlinie, die die von Russland bereits 2014 annektierte ukrainische Halbinsel Krim mit dem Donbass verbindet. Dieser umfasst wiederum Donezk und die östliche Region Luhansk, von denen Moskau den grössten Teil kontrolliert. Die Einnahme von Wuhledar, die Russland als eine der letzten ukrainischen Bastionen im südlichen Donezk darstellt, ebnet den Weg für russische Kräfte, auf andere Orte Richtung Westen vorzurücken.
- Nicht zuletzt war Wuhledar, welches über zwei Jahre verteidigt wurde, für die Ukrainer eine Art «Fels in der Brandung» oder «eine Bastion des Widerstands», wie es Berni nennt. Und auch für die Russen galt die Stadt lange als eine der am schwersten zu knackenden ukrainischen Festungen.
Was bedeutet der Verlust Wuhledars der Ukraine für den weiteren Verlauf des Krieges? «Wir sehen eigentlich, dass das gesamte ukrainische Verteidigungsdispositiv an verschiedenen Stellen wackelt und dies mindestens temporäre Probleme in den ukrainischen Reihen erahnen lässt», sagt Berni. Man könne feststellen, dass die Euphorie über den ukrainischen Erfolg in Kursk, die im August noch sehr stark war, verflogen zu sein scheine, denn die Russen gewinnen immer mehr an Momentum. Gleichwohl breche, so Berni, die ukrainische Verteidigung nicht in sich zusammen. «Es handelt sich dabei vielmehr um einen Verzögerungskrieg, wobei die Ukrainer darauf hoffen, dass sich die Russen offensiv erschöpfen, so wie sie es damals bei Bachmut taten.
Der Winter naht, für wen ist dies ein Vorteil? Berni sieht Vorteile für die Ukrainer. «Der Winter oder der Herbsteinbruch lässt die Ukrainer hoffen. Die Ukrainer hoffen derzeit auf einen schnellen Einbruch der Rasputiza. Das ist die Schlammperiode, die mechanisierte Vorstösse weiter erschweren dürften.» Und je schneller diese Rasputiza nun eintreffe, desto schwieriger dürfte es für offensive Operationen werden, die die Russen derzeit weiter unternehmen.