Der FSB hat den Anschlag auf die «Krokus City» nicht verhindern können – trotz Vorwarnung: Laut amerikanischen Medienberichten sollen die USA den russischen Behörden das Einkaufszentrum zuvor gar spezifisch als mögliches Ziel genannt haben. Russische unabhängige Medien fragen sich, wie das dem mächtigen FSB passieren konnte. Für interne Sicherheit gibt der russische Staat immerhin 15 Prozent seines Gesamtbudgets aus.
Doch der Soziologe Kirill Titajew von der amerikanischen Universität Yale relativiert die Vorwürfe gegen den Geheimdienst. Der Russe forscht zu den Sicherheitsbehörden in seiner Heimat. Die Einsatzkräfte hätten nach dem Anschlag vieles richtig gemacht.
Sie hätten schnell reagiert und seien vorsichtig vorgegangen, so Titajew. Gut organisierte Terroristen mit Schusswaffen seien für keinen Geheimdienst einfach aufzuhalten, auch mit Vorwarnung: «Das Einkaufszentrum war wohl nur eines von vielen potenziellen Zielen. Es ist sehr schwierig, alle zu überwachen.»
Dennoch: Die Reputation des FSB ist angeschlagen. Er war es, der dem Kreml einen raschen Sieg gegen die Ukraine voraussagte. Er hat sich vom Aufstand der Wagner-Truppen letzten Sommer überraschen lassen. Und nun dieser Terroranschlag: Mit ihrer demonstrativen Folter der mutmasslichen Täter schienen die Agenten zuzugeben, dass sie für etwas kompensieren wollten.
Fabrizierte Fälle
Die seit Kriegsbeginn verschärfte Repression gegen Andersdenkende schade dem Geheimdienst, sagt Kirill Titajew. Und sie könnte eine weitere Antwort auf die Frage geben, weshalb die Terrorattacke nicht verhindert wurde.
Der FSB ermittle ständig gegen angebliche Spione oder Verräter, die gar keine seien. «Wenn der Geheimdienst vor allem Fälle fabriziert, nimmt seine Fähigkeit, echte Terroristen zu finden, ab», sagt der Forscher. Zudem habe der FSB nun zusätzliche Aufgaben. Agenten, die sonst etwa unregistrierte Waffen aufspüren sollten, arbeiteten jetzt zum Beispiel in der besetzten Ukraine. «Paradoxerweise hat der Kriegszustand die Sicherheitskräfte in diesem Sinne geschwächt», so Titajew.
Titajew hat beim FSB auch andere Entwicklungen festgestellt. So sei es üblich geworden, offen politische Anklagen gegen Dissidenten zu erheben, anstatt die Repression wie früher als Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität zu tarnen. Ein Beispiel ist der verstorbene Alexej Nawalny, der ursprünglich wegen angeblichen Betrugs ins Gefängnis kam, nach Kriegsbeginn aber nachträglich wegen «Extremismus» verurteilt wurde.
Tendenz zur Gewalt
Ausserdem sei jetzt ein viel grösserer Teil des FSB-Personals an Einsätzen beteiligt, bei denen sie willkürlich Gewalt anwenden dürften, vor allem in der Ukraine. «Studien haben gezeigt, dass wer in einem solchen Umfeld gearbeitet hat, dann auch bei seiner üblichen Berufstätigkeit mehr Gewalt anwenden wird», sagt Titajew.
Die konkreten Auswirkungen müsse man noch abwarten, so der Soziologe. Seine Analysen deuten aber darauf hin, dass der Krieg den mächtigen FSB nicht nur brutaler macht, sondern auch weniger kompetent.