Frankreich wählt den Wechsel – diese eiserne Regel gilt seit über 40 Jahren, seit der Wahl des Sozialisten Mitterand. Seither wechselten die Mehrheiten in der Regel zwischen Links und Rechts. Mitterand musste nach fünf Jahren eine rechte Regierung ernennen, weil diese die Parlamentswahl gewonnen hatte. Dafür schaffte Mitterand nach diesen zwei Jahren Cohabitation die Wahl gegen seinen Premierminister Jacques Chirac.
Emmanuel Macron hat als erster Präsidenten seit Charles de Gaulle eine Wiederwahl geschafft, ohne sich vorher durch eine Cohabitation zu quälen.
Wahljahr bestätigt: Frankreich wählt den Wechsel
Nun gelingt Macron eine zweite Premiere, diesmal gegen seinen Willen: Die Wählerinnen und Wähler verweigern einem neugewählten Präsidenten eine eigene Mehrheit im Parlament, erstmals seit über 30 Jahren. Das Wahljahr 2022 bestätigt also: Frankreich wählt den Wechsel.
In der Mehrheit sind nun die Linksunion, die konservativen Républicains und das rechtsnationale Rassemblement Nationale. Politisch haben diese drei Blöcke miteinander nichts am Hut. Gemeinsam ist nur die Abneigung gegen Emmanuel Macron. Dies haben sie bereits im Wahlkampf fürs Parlament gezeigt. Das wichtigste Ziel der Opposition: Verhindern, dass der Präsident weiterhin regiert. Dies haben sie vorerst einmal erreicht.
Stabile Koalition ist nicht in Sicht
Emmanuel Macron wird jetzt in seiner zweiten Amtszeit vieles anders machen müssen: Dank der eigenen Mehrheit im Parlament hat er fünf Jahre lang seine Politik durchziehen können, ohne sich gross um die Opposition zu kümmern. Nun wird das Parlament plötzlich wichtig. Die erste Hürde steht bereits: Dass die vom Präsidenten ernannte Regierung durch das Parlament bestätigt wird, ist nicht selbstverständlich.
Diese Regierung wird später im Parlament Koalitionen schliessen müssen. Dies dürften wechselnde Bündnisse von Fall zu Fall sein. Denn eine stabile Koalition ist nicht in Sicht. Mit dem Linksbündnis oder dem Rassemblement Nationale wird sich Macron kaum auf eine Zusammenarbeit einlassen. Dies würde auch den Zusammenhalt seiner eigenen Allianz strapazieren. Die konservativen Républicain stehen für ein Abkommen auch nicht zur Verfügung, sagen sie.
Blockade oder Systemwechsel
Bleiben alle auf diesen Positionen, bedeutet dies für Frankreichs Politik Stillstand. Der Politikbetrieb wäre weitgehend blockiert, vor allem in der Wirtschaftspolitik. Nur in der Aussen- und der Sicherheitspolitik hat Frankreichs Präsident exklusive Kompetenzen.
Kommt dazu, dass er das Parlament vor dem offiziellen Ende seiner Amtszeit 2027 auflösen könnte: Das Risiko für Macron wäre, dass seine relative Mehrheit weiter schrumpfen könnte. Macron müsste zeigen, dass die vereinte Opposition nur blockiert. Dies braucht Zeit, die Frankreich angesichts der drängenden Probleme in der Wirtschafts- und Umweltpolitik eigentlich nicht hat.
Die andere, optimistische Variante: Das Parlament entwickelt sich tatsächlich zu einem Ort, wo politische Auseinandersetzungen geführt und Kompromisse ausgehandelt werden. Dies wäre für Frankreich neu – und ein wirklicher Wechsel im System.