Quasi im Windschatten des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine wird die Sicherheitslage auf der koreanischen Halbinsel immer prekärer. Die Provokationen Nordkoreas reissen nicht ab: Trotz internationaler Verbote und Sanktionen hat das Land allein in diesem Jahr schon 40 Raketentests durchgeführt – und es wird mit einem baldigen Atomtest gerechnet. Was ist zu tun? Eine Einschätzung von Nordkorea-Experte Eric Ballbach.
SRF News: Wie hat sich das militärische Abschreckungspotenzial Nordkoreas in den letzten Jahren entwickelt?
Eric Ballbach: Nordkorea hat sowohl das Raketenprogramm weiterentwickelt als auch bei den Nuklearwaffen Fortschritte gemacht. Damit hat das Land die Entwicklung umgelenkt von taktischen hin zu strategischen Atomwaffen, die mit Raketen weit transportiert werden können.
Nordkorea stellt eine immer grössere Gefahr in der Region dar – und darüber hinaus.
Nordkorea stellt eine immer grössere Bedrohung in der Region dar – aber auch darüber hinaus. 2006 hatte Nordkorea seine Atomwaffen als reine Verteidigungswaffen bezeichnet. Doch seit Kurzem sieht die nordkoreanische Nukleardoktrin auch Präventivschläge vor.
Was bedeutet das?
Pjöngjang hat die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen herabgesetzt, indem explizit die Möglichkeit eines Erstschlags festgehalten wird. Zudem hat es Änderungen bei der Entscheidungsgewalt zum Einsatz dieser Massenvernichtungswaffen gegeben. Inzwischen ist Nordkorea jenes Land auf der Welt, das die niedrigste Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen besitzt.
Wie ist es zu diesem Schritt gekommen?
Das hat strategische Hintergründe – denn auch Südkorea verstärkt seine Abschreckungspolitik. So hat Präsident Yoon Suk Yeol im Falle eines Angriffs seines Landes durch Nordkorea mehrfach davon gesprochen, sogenannte Enthauptungsschläge durchzuführen. Dem tritt Nordkoreas Machthaber Kim Jong Un mit der Neuausrichtung seiner Militärstrategie entgegen. Diese Entwicklung ist höchstgefährlich.
Wie sollte die internationale Gemeinschaft angesichts dieser Ausgangslage mit Nordkorea umgehen?
Die Sicherheitslage auf der koreanischen Halbinsel muss kurz- und mittelfristig irgendwie verbessert werden. Ein möglicher Ansatz wären etwa Gespräche mit Pjöngjang über die Nicht-Weitergabe der Atomwaffen, der «Non-Proliferation». Dazu hat sich das Land in seinem neuen Nukleargesetz schliesslich auch verpflichtet. Wir müssen realistisch genug sein, dass sich Nordkorea kurz- und mittelfristig nicht von den Atomwaffen verabschieden wird.
Besteht nicht die Gefahr, dass andere Staaten in ihren Nuklearplänen bestärkt werden, wenn man jetzt Nordkorea als Atommacht akzeptiert?
Diese Gefahr besteht tatsächlich – und wir müssen sehr vorsichtig sein. Trotzdem: Die Glaubwürdigkeit des Nicht-Verbreitungsvertrags leidet stärker, wenn wir die Augen vor der Realität verschliessen, als wenn wir einsehen, dass es im Fall Nordkorea nicht gelungen ist, das Land von der Atomwaffenentwicklung abzubringen.
Kein anderes Land hat sein eigenes Überleben derart stark an Atomwaffen gebunden.
Es geht jetzt darum, die Lektion für andere Fälle – wie etwa Iran – zu lernen. Allerdings ist der Fall Nordkorea bisher einzigartig: Kein anderes Land hat sein eigenes Überleben derart stark an Atomwaffen gebunden und war dabei bereit, auf dem Rücken der Bevölkerung einen derart hohen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Preis zu bezahlen.
Das Gespräch führte Matthias Kündig.