Es war keine einfache Kost, welche die britischen Parlamentarier über die Weihnachtstage verdauen mussten. 1270 Seiten umfasst das komplexe Vertragswerk, welches die Zukunft zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union regelt. Zu viel, um in einem Tag im Detail zu prüfen.
Premierminister Boris Johnson beschränkte sich deshalb in erster Linie auf die historische Bedeutung des Vertrags:
Heute öffnen wir in unseren Geschichtsbüchern ein neues Kapitel. Mit der Rückeroberung unserer Freiheit werden wir wieder Handel mit dem ganzen Globus führen können. Grossbritannien wird wieder eine souveräne, globale Handelsmacht. Die Befreiung von der Europäischen Union ist nur das Präludium zu noch grösseren Taten unserer Nation.
Für diese «heroische Leistung» wurde Johnson von seiner konservativen Partei im Parlament mit Lob überschüttet.
Der Premierminister habe Grossbritannien gegen alle Widerstände aus den Fesseln der EU befreit – für diese patriotische Tat werde Johnson in die Geschichtsbücher eingehen, meinte der konservative Sir William Cash:
Wie Alexander der Grosse hat Johnson den gordischen Knoten zerschlagen. Selbst Churchill und Thatcher wären stolz auf ihn und wir sind es ebenso. Unsere Souveränität zurückzuerhalten ist ein grosser Wendepunkt in der grossen Geschichte unserer Nation.
Ein ganzes Heer von konservativen Juristen hatte das Vertragswerk in den vergangenen Tagen zerlegt und geprüft – und den Bruch mit der EU für genug hart befunden. Man bleibt mit Brüssel assoziiert, aber nicht gebunden. Leicht anders sah das Oppositionsführer Keir Starmer. Kurz vor Torschluss werde den Britinnen und Briten ein dünner und schlechter Deal präsentiert:
Es ist völlig unakzeptabel, dass uns dieser Vertrag 24 Stunden vor Ablauf der Übergangsfrist zur Prüfung vorgelegt wird. Bereits vor einem Jahr hat er uns einen fixfertigen Deal versprochen. Dann im Juli. Im September. Dann im November und am Ende wurde es Heiligabend.
Die Wirtschaft werde bis in die letzte Minute in grösser Unsicherheit gelassen und das mitten in einer Pandemie, beklagte Starmer. Der Freihandelsvertrag regle wenig. Der britische Finanzplatz bleibe im Ungewissen über seine Zukunft. Die Administration an den Grenzen werde massiv zunehmen. Die Qualifikationen von britische Ärztinnen, Veterinären, Buchhaltern oder Architekten seien in der Europäischen Union nicht mehr anerkannt. «Der Premierminister hat erneut mehr versprochen, als er gehalten hat.»
24 Stunden vor Ablauf der Übergangsfrist gibt es jedoch keinen anderen Vertrag als den vorliegenden. Lieber diesen Deal, als gar keinen Deal, sagte Starmer im Parlament. Die Mehrheit der Labour-Abgeordneten hat sich dieser Einsicht angeschlossen. Klar abgelehnt wird der Vertrag dagegen von den Abgeordneten der Schottischen Nationalpartei. Mit dem Vertrag verliere Schottland mehr, als es gewinne, meinte Ian Blackford:
Schottland ist von tiefstem Herzen ein europäisches Land. Das unabhängige Schottland hat hunderte von Jahren in enger Verbundenheit mit dem europäischen Festland Handel getrieben. Schottische Unternehmer reisten auf dem Kontinent, trieben Handel und genossen Niederlassungsfreiheit. Schottland war europäisch bevor es britisch wurde.
Der schottische Abgeordnete bezeichnete den Freihandelsvertrag des Premierministers als wirtschaftlichen Vandalismus und einen Verrat an den schottischen Fischern. Blackford zeigte aber ebenso deutlich, dass die Folgeschäden und möglichen Sollbruchstellen des Brexit die britische Politik noch lange bestimmen werden.
Ab morgen Mitternacht ist Grossbritannien zwar wieder ein souveränes Land, das seine Gesetze, Grenzen und Geld kontrolliert. Der Kontrolle über die Unabhängigkeitswünsche Schottlands könnten London aber noch mehr entgleiten.