Die Angst vor einem Atomkrieg geht um. «Ein Nuklearkonflikt, früher einmal undenkbar, ist wieder in den Bereich des Möglichen gerückt», sagte kürzlich UN-Generalsekretär António Guterres mit Blick auf den Ukraine-Krieg. Zumal der russische Präsident Wladimir Putin mehrfach vor dem Einsatz von Atomwaffen gewarnt hat.
Und während Nord- und Südkorea Raketen hin und her ins Meer abfeuern, sagen Expertinnen und Experten einen baldigen Atombombentest des nordkoreanischen Führers Kim Jong-un voraus. Es wäre der erste seit 2017.
Dabei liegt in der Angst der Menschen die eigentliche Macht der Atomwaffen. Seit es sie gibt, ist ein Atomkrieg immer bloss ein Schiessbefehl entfernt. Sie können eine Millionenstadt in wenigen Sekunden zerstören und mit der radioaktiven Strahlung für viele Jahre unbewohnbar machen. Ihre schiere Existenz schüchtert ein, schreckt ab. «Wenn Sie einmal eine Atomwaffe einsetzen... die Fehler, die Sie machen können, die Fehleinschätzungen. Wer weiss, was passieren würde», warnte der US-Präsident Joe Biden in einem Fernseh-Interview.
Doch welche Regeln haben sich die Atommächte selbst auferlegt, in welchen Szenarien hielten sie den Einsatz der Schreckenswaffen für angemessen? Und wer würde darüber entscheiden?
Die Fragen stellen sich für die neun Staaten, die über eigene Atomwaffen verfügen.
Staaten, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Demokratien und Diktaturen, Wirtschaftssupermächte. Umso bemerkenswerter, dass es punkto Atomwaffenpolitik viele Gemeinsamkeiten gibt.
Atomare Geheimniskrämerei
In allen Atommächten unterliegen Einzelheiten zu Waffenstandorten, Befehlsketten und möglichen Angriffszielen der Geheimhaltung. In Israel äussert sich die Regierung gar nicht erst zu ihren Atomwaffen, obwohl deren Existenz in der Fachwelt als gesichert gilt. Und auch in anderen Atommächten erteilt die Regierungen kaum Auskunft zu Details; nur ein ganz kleiner Kreis an der Spitze von Politik und Sicherheitsapparat ist eingeweiht.
Als Rishi Sunak kürzlich den Posten der britischen Premierministers übernahm, gehörten Gespräche mit seinen Generälen über den Einsatz von Atomwaffen zu den ersten Amtshandlungen, ebenso das Verfassen der «Letter of Last Resort». Dabei handelt es sich um handgeschriebene Dokumente, in denen der Premierminister seinen Streitkräften Anweisungen gibt für den Fall eines Atomkriegs.
Die Dokumente sind in Friedenszeiten unter Verschluss, werden beim Ausscheiden aus dem Amt ungelesen vernichtet und durch die «Letter of Last Resort» des Nachfolgers oder der Nachfolgerin ersetzt.
Der Grund für die Geheimniskrämerei ist ein militärischer – und psychologischer: Potenzielle Feinde sollen über genaue Abläufe und Einsatzoptionen im Unklarem gelassen, die Abschreckung auf diese Weise erhöht werden. Englischsprachige Expertinnen und Experten sprechen von «Nuclear Ambiguity», von «nuklearer Mehrdeutigkeit».
Gleichgewicht des Schreckens
Eindeutig schien hingegen während Jahrzehnten der Zweck von Atomwaffen. Im Kalten Krieg zwischen der Sowjetunion und den USA herrschte das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens. Beide Supermächte hätten sich mit Atomraketen gegenseitig auslöschen können – und haben wohl auch deshalb alles getan, um einen heissen Krieg mit dem Kontrahenten zu vermeiden.
Anders gesagt: Der Zweck der Atomwaffen bestand darin, sie nie einzusetzen.
Die Doktrin vom Gleichgewicht des Schrecken gilt zwar als überholt, der Abschreckungszweck lebt aber in den Nukleardoktrinen der Atommächte fort. In Russland beispielsweise gilt offiziell als Einsatzgrund für Atomwaffen eine «existentielle Bedrohung» des Landes, wobei diese nicht im Detail definiert wird.
Einen Erstschlag mit Atomwaffen schliesst Russland jedenfalls nicht aus, genauso wenig wie die meisten anderen Atommächte. Es gilt die «Nuclear Ambiguity». Unzweideutig ist dagegen Nordkorea: Die totalitäre Diktatur behält sich einen Erstschlag ausdrücklich vor. Umgekehrt beteuern China und Indien, Atomwaffen nur einzusetzen, wenn sie selber mit Atomwaffen angegriffen würden.
Einsame Entscheide
Entscheidend sind im Falle der Fälle aber weder die Nukleardoktrin eines Landes noch irgendwelche Geheimprotokolle – sondern ein Mann oder eine Frau an der Spitze des Staates. In allen Atommächte entscheidet eine einzige Person oder eine sehr kleine Gruppe von Menschen.
Der Grund für diese Machtkonzentration ist auch militärisch-psychologisch: Die Abschreckung ist nur gewährleistet, wenn im Angriffsfall der atomare Gegenschlag innerhalb weniger Minuten erfolgen kann. Langwierige Konsultationen in einem Regierungskabinett oder gar mit dem Parlament würden dem im Wege stehen. Allerdings ist durchaus denkbar, dass die internen Ablaufpläne Konsultationen oder gar die Mitentscheidung anderer hoher Amtsträger vorsehen, etwa des Verteidigungsministers oder -ministerin oder des höchsten Militärs.
Um einen Atomschlag auszuführen, braucht es jedenfalls nicht nur den Befehl von oben, sondern auch Personal, das ihn ausführt, darunter ausgesuchte Militärs, welche die Waffensysteme einsatzbereit machen und starten können. «Natürlich gibt es eine Befehlskette, was bedeutet, dass die Befehle von den Untergebenen ausgeführt werden müssen», sagt Beatrice Fihn.
Sie leitete die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN), welcher 2017 der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Fihn ergänzt: «Es ist nicht so, dass Wladimir Putin selbst eine Atombombe zünden kann, aber er wird die Entscheidung dazu treffen – und es wäre ein Verbrechen, wenn seine Untergebenen die Befehle missachten würden.»
Atomkoffer für alle Fälle
Sie benötigen dafür zum Beispiel Zahlencodes, die wiederum unter Kontrolle des Staatsoberhaupts sind. Wichtige Informationen zum Einsatzbefehl werden in den USA, in Russland und wohl auch in Frankreich etwa in einem sogenannten Atomkoffer gelagert. Er dient dem Präsidenten dazu, seine Befehlsgewalt auch dann wahrzunehmen, wenn er gerade auf Dienstreise oder in den Ferien ist.
Atomwaffen machen nicht nur Angst– die geheimnisumwitterten Atomkoffer, die Befehlsketten und Einsatzpläne der Atommächte haben auch immer schon fasziniert und Kinofilme wie «The Day After» und Serien wie «Madam Secretary» inspiriert.
Im Kalten Krieg bestand viele Jahre Einigkeit, dass die einzige Daseinsberechtigung der Atomwaffenarsenale – wenn es denn überhaupt jemals eine gab – die Nichtverwendung sein darf. Und dass es fahrlässig wäre, die Angst vor einem Atomkrieg zu schüren, damit die Welt zu erpressen. Eine Spielregel, die in Erinnerung zu rufen sich auch heute lohnt.