Die ostukrainische Metropole Charkiw hat 60 Klassenzimmer in U-Bahnstationen unter der Stadt eingerichtet – es ist die erste unterirdische Schule des Landes. Damit sollen mehr als 1000 Schülerinnen und Schüler den Unterricht auch im Fall von Raketenangriffen der Russen besuchen können. SRF-Ukrainespezialist David Nauer weiss mehr über die Situation der Schüler in der Ukraine.
SRF News: Wie gestaltet sich der Schulalltag in der Ukraine?
David Nauer: Das ist je nach Region sehr unterschiedlich. In Frontnähe kann von einem Schulalltag keine Rede sein – ständig muss mit Artilleriebeschuss gerechnet werden, der Krieg ist dort omnipräsent.
Viele Menschen haben Freunde, die an der Front kämpfen – oder gefallen sind.
Doch in den meisten Teilen der Ukraine gibt es trotz Krieg durchaus eine gewisse Normalität: Die Geschäfte haben geöffnet, die Menschen gehen zur Arbeit, die Kinder zur Schule. Trotzdem ist der Kriegsalltag spürbar – auch weit hinter der Front schlagen immer wieder Raketen ein. Und viele Menschen haben Freunde, die an der Front kämpfen oder gefallen sind.
Gibt es in Frontnähe überhaupt noch Schulunterricht?
Grundsätzlich haben die Schulen geöffnet, doch es ist ein Schulunterricht im Kriegsmodus: Vielerorts erfolgt ein Teil des Unterrichts online, weil die Schulhäuser nicht über genügend Bombenschutzräume für alle Schüler verfügen.
Es dürfen in einer Schule jeweils nur so viele Kinder anwesend sein, wie es Plätze in den Bombenschutzräumen gibt.
Denn es dürfen jeweils nur so viele Kinder vor Ort anwesend sein, wie es für sie Platz in den Schutzräumen hat – schliesslich herrscht mancherorts mehrmals täglich Luftalarm. Ausserdem nehmen viele vor dem Krieg geflohene Kinder per Internet am Unterricht in der Ukraine teil.
Wie belastend ist der andauernde Kriegszustand für die Kinder?
Jugendliche, mit denen ich gesprochen habe, haben sich mir gegenüber sehr cool gegeben – während mir der Lehrer sagte, die Situation sei für sie durchaus belastend. Mehrfach wurde mir in der Ukraine auch von Kindern berichtet, die durch den Krieg traumatisiert sind. Die permanenten Luftalarme oder Explosionen können zu immer mehr psychosomatischen Krankheiten bei ihnen führen.
Die Ukraine scheint sich auf einen noch länger andauernden Krieg einzustellen – ist das so?
Niemand weiss, wie lange der Krieg noch dauern wird – inzwischen denken viele Ukrainerinnen und Ukrainer, mit denen ich in letzter Zeit gesprochen habe, dass er noch mehrere Jahre dauern könnte. Entsprechend müssen sich die Menschen in diesem schlimmen Kriegszustand irgendwie einrichten.
Manche Eltern sorgen sich um ihre Kinder und möchten sie nicht noch jahrelang der Kriegsrealität aussetzen.
Das zeigt etwa das Beispiel Charkiw, wo gleich eine ganze Schule in den U-Bahnschächten gebaut wurde. Zugleich sorgen sich manche Eltern um ihre Kinder und möchten sie nicht noch jahrelang dieser Kriegsrealität aussetzen.
Droht der Ukraine wegen des Angriffskriegs Russlands eine verlorene Generation?
Offenbar funktionieren die Schulen in der Ukraine sehr gut, der Staat bemüht sich, dass die Kinder mindestens online den Unterricht mitverfolgen können – auch aus dem Ausland. Zugleich gibt es aber die Befürchtung, dass viele der wohl mehreren hunderttausend Kinder im Ausland nicht mehr in die Ukraine zurückkehren werden. Zugleich kämpfen viele Väter an der Front – und viele von ihnen sterben oder werden schwer verwundet. Entsprechend kommt es tatsächlich zu grossen Lücken in der Demografie des Landes. Und je länger der Krieg dauert, umso grösser werden sie.
Das Gespräch führte Isabelle Maissen.