Wo Hitlers Knochen liegen, weiss niemand so genau. Aber zu Mussolinis Grab reisen jährlich Zehntausende, manche Quellen sprechen sogar von bis zu hunderttausend. Vor allem jetzt, zum 100. Jahrestag des Marsches auf Rom, der Machtergreifung Mussolinis Ende Oktober 1922.
Sie pilgern nach Predappio, einer Kleinstadt mit 6000 Einwohnern zwischen Bologna und Rimini. Niemand würde die Stadt kennen, wären hier nicht der Geburtsort und das Grab von Benito Mussolini.
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Bild 1 von 2Legende: Auf diesem Friedhof, in der Krypta dieser Kapelle, ist das Grab von Benito Mussolini. SRF
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Bild 2 von 2Legende: Das Grab Mussolinis: Zehntausende pilgern jedes Jahr zur Grabstätte. Keystone/AP/Venanzio Raggi
In der Familienkrypta auf dem Cimitero Monumentale stehen die steinernen Sarkophage der Familie; im Zentrum der Sarg des Duce, geschmückt mit weissen Blumen, einer Marmorbüste des Diktators und einem Jutesack mit Wüstensand.
Eine Hommage an die brutalen Vernichtungskriege Mussolinis in Ost- und Nordafrika. Im Gästebuch steht beispielsweise: «Dux nel cuore – der Führer im Herzen». Und statt einer Unterschrift heisst es darunter bloss: «Svizzera San Galla».
Wertfreie Geschichte
Unter den Besuchern sind ein etwa 50-jähriger Vater und sein Sohn. Mussolini sei ein Stück Geschichte, im Guten, wie im Schlechten, sagt er. Werten will er nicht. Ein Besuch in der Krypta sei Tourismus, nichts anders als eine Besichtigung des Kolosseum in Rom. Und sein Sohn ergänzt: Mussolini sei für ihn eine grosse Person der Geschichte, wie zum Beispiel Karl der Grosse.
Diese fast aseptische Betrachtung der Geschichte ist typisch in Italien. Die Verbrechen des Diktators, seine Vernichtungskriege in Ost- und Nordafrika, werden ausgeblendet. Hitler war schlimmer, so die verbreitete Meinung.
Doch Italien setzte beispielsweise 1936 in Abessinien, dem heutigen Äthiopien und Eritrea, Giftgas ein und bombardierte rücksichtslos Dörfer, Vieherden, Lazarette, das Rote Kreuz und verursachte hunderttausende ziviler Opfer. «Tempi passati», sagen Vater und Sohn auf dem Friedhof in Predappio. Die anderen Kolonialmächte seien auch nicht besser gewesen.
Und im lokalen Souvenirshop werden ungeniert Büsten von Mussolini, Hitler und Hakenkreuzfahnen verkauft. Geschichte halt.
Faschistische Souvenirs in Predappio
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Bild 1 von 5Legende: Bilder vom Duce mit dem römischen Gruss, ... SRF
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Bild 2 von 5Legende: Bierflaschen, ... SRF
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Bild 3 von 5Legende: Weinflaschen mit dem Konterfei von Mussolini ... SRF
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Bild 4 von 5Legende: ... und Büsten des italienischen Diktators. SRF
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Bild 5 von 5Legende: Als Souvenir gibt es in Predappio auch Büsten von Hitler, Hakenkreuzfahnen und den Reichsadler mit Hakenkreuz zu kaufen. SRF
Woher rührt dieses fehlende Geschichtsbewusstsein? Paul Corner, Historiker aus Siena, hat in diesem September das Buch «Mussolini in Myth and Memory» – «Mussolini – Mythos und Erinnerung» veröffentlicht.
Er sagt: Italien habe immer das Erbe der Partisanen beschworen, die nach 1943 die Faschisten und die deutschen Truppen bekämpft hatten; das berühmte Partisanenlied «Bella Ciao» ist vielen ein Begriff.
«Brava gente»
«Italien hat sich immer als Opfer des Faschismus gesehen, die Faschisten waren die anderen», sagt Corner, «die Italiener sahen sich immer als ‹brava gente›, gute Leute.» Dazu kamen eine grosszügige Amnestie und der Kalte Krieg; der Westen und die Nato brauchten Italien.
Als sich dieser Opfermythos nicht mehr halten liess, änderte sich das Narrativ: «Wenn wir Faschisten waren, aber gleichzeitig ‹brava gente› sind, dann kann der Faschismus nicht so schlecht gewesen sein». Das sei die absurde Selbstdarstellung in den 1970er Jahren gewesen, erläutert Paul Corner.
Heute blickt Italien auf die 20 Jahren Faschismus zurück, als ob es die Geschichte eines anderen Landes wäre. Und überall im Land gibt es zahlreiche bauliche Symbole und Zeugen des Faschismus, ohne Kommentar, ohne Hinweistafel, ohne Erklärung, ohne historische Einordnung.