Seit Jahren sterben im Krieg im Jemen tausende Menschen. Die UNO spricht von der schlimmsten humanitären Krise der Welt. Der Tessiner Raffaele Rosso ist Chirurg und war Ende Jahr für mehrere Wochen für die Organisation «Ärzte ohne Grenzen» (MSF) im Jemen. Zum Zeitpunkt des Gesprächs arbeitete Rosso in einer Stadt in der Nähe von Sanaa, die von den Huthis kontrolliert wird. Für ihn ist klar: Unser Bild von den Zuständen im Land entspricht nicht der Realität.
SRF News: Unter welchen Bedingungen arbeiten Sie vor Ort?
Raffaele Rosso: Das Gesundheitssystem im Jemen ist sehr problematisch. Ich habe aber das Glück mit MFS arbeiten zu können. Die medizinischen Standards werden respektiert: Ich habe genügend Instrumente und immer einen Anästhesisten bei meinen Eingriffen. Im Unterschied zu anderen Ländern, wo MSF tätig ist, haben insbesondere die Chirurgen, die hier tätig sind, ein sehr hohes Niveau. Mit meinem Team kann ich auch sehr komplexe Eingriffe durchführen.
Sie meinen also Chirurgen aus dem Jemen selbst?
Ja, diese sind sehr gut ausgebildet und technisch sehr gut. Sie sind auch nicht überheblich, sondern sehr dankbar, dass wir da sind. Das Problem ist allerdings, dass es viel zu wenige von ihnen gibt. Deswegen sind sie sehr glücklich über die Verstärkung der Manpower.
Sind Sie vor allem mit Kriegsverletzungen konfrontiert?
Die Situation ist komplexer. Wir haben zwar tatsächlich Kriegsverletzte, sie stellen aber nur einen Teil unserer Patienten. Beim grössten Teil handelt es sich um Kollateraleffekte des Krieges. Das jemenitische Gesundheitssystem ist komplett zusammengebrochen. Viele Spitäler können nicht mehr betrieben werden, weil es an Strom oder Wasser fehlt.
Vielen Spitälern ist es nicht möglich, Patienten zu behandeln und Eingriffe vorzunehmen, die vor dem Krieg Routine waren – beispielsweise Blinddarm-Operationen. Solche Eingriffe führen also oft wir durch, genauso wie Gallenblasen-Operationen, einfache Wundversorgung und so weiter. Schliesslich sind durch die grossen Spannungen im Land viele Männer bewaffnet. Deswegen behandeln wir auch viele Schussverletzungen.
Die Bevölkerung weiss derzeit nicht, ob noch Krieg herrscht, ob er weitergeht, ob er bald fertig sein könnte. Diese Unsicherheit führt zu einer erhöhten Anspannung unter den Menschen.
Können Sie diese Spannungen im Land näher beschreiben?
In der Schweiz setzt man den Krieg im Jemen mit Luftrangriffen und kämpfenden Bodentruppen gleich und glaubt, dass die Menschen vor allem dadurch verletzt würden. Vor allem auch Frauen, Kinder und ältere Menschen. Die Realität ist aber eine andere. Im Moment herrscht ein Waffenstillstand, der kürzlich in Stockholm ausgehandelt wurde – auch wenn er immer wieder gebrochen wird.
Die Bevölkerung weiss derzeit nicht, ob noch Krieg herrscht, ob er weitergeht, ob er bald fertig sein könnte. Diese Unsicherheit führt zu einer erhöhten Anspannung unter den Menschen. Sie reagieren sehr dünnhäutig auf kleine Dinge, auf Banalitäten – das kann bis zu bewaffneten Angriffen führen.
Das Hauptproblem ist der Zusammenbruch des ganzen Landes durch die Kollateralschäden des Kriegs.
Haben wir also aus der Ferne ein falsches Bild davon, was derzeit im Jemen wirklich passiert?
Das ist tatsächlich so. Als ich aus der Schweiz für meine Mission hierhergekommen bin, glaubte ich, dass ich im unmittelbaren Kriegsgeschehen landen würde. Luftangriffe, Bombardements, Kriegsversehrte. All diese Dinge. Das ist aber nur ein Teil der Realität. Das Hauptproblem ist der Zusammenbruch des ganzen Landes durch die Kollateralschäden des Kriegs. Der Jemen ist ein so wunderschönes Land mit vielen Ressourcen. Die Menschen tragen eine besondere Wärme in sich. Es schmerzt, wenn man diese allumfassende Zerstörung sieht. Auch die Menschen und ihre Werte werden zerstört.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.