«Meine Lieben, ich trete zurück»: Die Ansprache des damaligen Präsidenten Boris Jelzin am 31. Dezember 1999 veränderte Russland für Jahrzehnte. Die Jahrtausendwende sei der richtige Zeitpunkt für eine neue Politiker-Generation, um Russland nach vorne zu bringen, meinte Jelzin damals mit der schweren Zunge eines Alkoholikers.
Mit Jelzins Rücktritt klangen die «Wildostjahre» nach dem Zerfall der Sowjetunion aus, das Chaos und die Anarchie, die das zerbröckelnde Riesenreich erfasst hatte. Gekennzeichnet vom Aufstieg umtriebiger Oligarchen und dem zarten Pflänzchen Demokratie, das bald zu welken begann.
Plötzlich Präsident
«Ich habe einen Erlass unterschrieben, welcher das Amt des Präsidenten an Ministerpräsident Wladimir Wladimirowitsch Putin übertragen wird», verkündete Jelzin. Einst war Jelzin als mutiger Reformer angetreten. Nun verliess er als kranker, abgekämpfter Mann die Bühne.
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Bild 1 von 5. Für Kremlchef Wladimir Putin ist Silvester dieses Jahr ein ganz besonders denkwürdiger Tag. 20 Jahre ist es am 31. Dezember her, dass er erstmals russischer Präsident wurde. Bildquelle: Reuters.
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Bild 2 von 5. «Das ist nun Ihr Büro.» Es war Jelzin, der Putin die Türe zur Macht öffnete. Mit seinem vorzeitigen Rücktritt wurde die Präsidentschaftswahl um mehrere Monate vorgezogen. Jelzin machte Putin zum Präsidenten und sicherte seinem Nachfolger damit den entscheidenden Vorteil gegenüber den Konkurrenten. Bildquelle: Reuters.
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Bild 3 von 5. Der damals erst 47 Jahre alte Putin gewann die Wahl. Und Jelzin, den viele Russen trotz der wirtschaftlich chaotischen 1990er Jahre bis heute für seine demokratische Freiheitsliebe schätzen, verschwand von der Bildfläche. Bildquelle: Reuters.
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Bild 4 von 5. Im Kreml übernahm der Ex-KGB-Offizier, der sich bis zum Chef des Inlandgeheimdienstes FSB hochgearbeitet hatte, die Macht. Nur einmal von 2008 bis 2012 zog Putin vorübergehend aus, um auf den Posten des Regierungschefs zu wechseln. In diesen vier Jahren überliess er Dmitri Medwedew das Amt des Präsidenten (links im Bild). Bildquelle: Reuters.
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Bild 5 von 5. Die Verfassung lässt nur zwei Amtszeiten als Präsident in Folge zu. 2012 kam Putin zurück. Für zwei weitere Amtszeiten – voraussichtlich bis 2024. Bildquelle: Reuters.
Jelzins politisches Vermächtnis bleibt zwiespältig. «Kritiker werfen ihm vor, sein einstiges Ziel – die Demokratisierung Russlands – mit seinem Rücktritt über Bord geworfen zu haben», sagt SRF-Korrespondentin Luzia Tschirky.
An Jelzins Stelle trat ein unscheinbarer Mann aus der russischen Geheimdienst-Aristokratie, den viele als Apparatschik belächelten. Er sollte sie eines Besseren belehren.
Russlands (Selbst-)Erneuerer
Der Entscheid, Putin als Nachfolger zu installieren, sei von Jelzin und wenigen Personen in seinem engsten Umfeld getroffen worden, erklärt der Politologe Kirill Rogow: «Es gab zum damaligen Zeitpunkt ein grosses Bedürfnis nach jemanden, der aus dem Umfeld der Sicherheitskräfte kam.» Das Ziel der Machtelite umreisst Rogow wie folgt: Putin sollte einen guten Eindruck auf die Sicherheitsorgane machen und gleichzeitig ein gutes Verhältnis zu den Oligarchen unterhalten.
Der ehemalige Geheimdienstchef machte sich in Kürze einen Namen als Mann mit Durchsetzungskraft. Vor allem während des zweiten Krieges in Tschetschenien, der im Herbst 1999 begonnen hatte. Das neue Jahrtausend sollte ein neues Russland hervorbringen, angeführt von einem Präsidenten mit klarer Kante. Kompromisslos, machtbewusst, und, wie sich zeigen sollte, mit einem ganz eigenen Demokratieverständnis.
Die Freiheit des Wortes, des Gewissens, die Freiheit der Medien, die Eigentumsrechte, alle Elemente der zivilisierten Gesellschaft werden verlässlich geschützt.
Die harte Hand gegen Separatisten, Terroristen, unliebsame Oligarchen und Oppositionelle sollte zum Markenzeichen von Putins Innenpolitik werden. Und sich bald auch aussenpolitisch Bahn brechen. 2007 verlieh Putin an der Münchner Sicherheitskonferenz seiner Frustration über die westliche Politik Ausdruck:
In einer wütenden Anklage verwahrte er sich vor einer unipolaren, US-dominierten Weltordnung und dem Vorrücken der Nato an die Grenzen Russlands. Die Entfremdung zwischen Putins Russland und dem Westen sollte sich in den nachfolgenden Jahren weiter akzentuieren.
Die russische Annexion der Krim 2014 markierte den vorläufigen Höhepunkt der neuen russischen Kraftmeierei auf der Weltbühne – und machte den Kremlchef, zumindest im Westen, zur Persona non grata.
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Bild 1 von 5. Kein Zurückweichen gegenüber Terroristen in Putins Russland: Tschetschenische Separatisten brachten 2002 850 Menschen im Moskauer Dubrowka-Theater in ihre Gewalt. Nach zweieinhalb Tagen pumpten Spezialeinheiten Gas in das Theater und stürmten das Gebäude. Neben den Terroristen starben 130 Geiseln – fast alle an den Folgen des Gaseinsatzes. Bildquelle: Reuters.
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Bild 2 von 5. 2004 starben in einer Schule im nordossetischen Beslan 331 Geiseln – darunter 186 Kinder, mehrere Soldaten und fast alle Terroristen. Das Geiseldrama hat die Welt über 50 Stunden lang in Atem gehalten. Die Sicherheitskräfte griffen rigoros durch – Angehörige der Opfer gaben der Staatsführung später eine Mitverantwortung am Blutvergiessen. Bildquelle: Reuters.
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Bild 3 von 5. Die russische Annexion der Krim und die Unterstützung der Rebellen im Osten der Ukraine im Jahr 2014 läuteten einen grossen internationalen Umbruch ein. Nicht nur die USA, sondern auch Europa kehrten sich von Russland ab. Bildquelle: Reuters.
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Bild 4 von 5. Nach der Krim-Annexion regnete es Sanktionen gegen ein wirtschaftlich ohnehin geschwächtes Russland. Putin gab sich unbeeindruckt: Mit der Intervention in Syrien unterstrich Russland – zumindest militärisch – die eigenen Grossmachtansprüche. Bildquelle: Reuters.
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Bild 5 von 5. Nach Jahren der Konzentration auf aussenpolitische Stärke sei es an der Zeit, sich um die Probleme im Land zu kümmern, schrieben viele Moskauer Kommentatoren zum Jahresende. Sie kritisierten, dass es an Ideen für die Zukunft fehle. Das Land mit seinem Stolz auf den Sieg der Sowjetunion über den Faschismus lebe zu sehr in der Vergangenheit. Bildquelle: Reuters.
Doch zum Jahrestag wächst der Druck auf den 67-jährigen Kremlchef. Immer mehr Russen wollen Veränderung. Nach 20 Jahren mit Putin macht sich nach Meinung vieler Experten in Russland zunehmend Ernüchterung breit. Die nationale Euphorie von 2014 über die von vielen Russen gefeierte «Heimholung» der zur Ukraine gehörenden Schwarzmeer-Halbinsel Krim ist verflogen.
Dabei war Präsident Jelzin bei seinem Rücktritt noch zuversichtlich, dass Russlands totalitäre Zeiten vorbei seien. Putin dankte damals Jelzin in seiner Anschlussrede für das Vertrauen. Und er beteuerte am Silvesterabend: «Die Freiheit des Wortes, des Gewissens, die Freiheit der Medien, die Eigentumsrechte, alle Elemente der zivilisierten Gesellschaft werden verlässlich geschützt.» 20 Jahre später sehen Kremlgegner und Menschenrechtler all das weitgehend vernichtet.
Wie weiter nach der Ära Putin?
Verbreitet ist vielmehr die Sichtweise, dass Putin ein System geschaffen hat, das schon aus reinem Selbsterhaltungstrieb alles daran setzen wird, dass er Kremlchef bleibt. Militär, Geheimdienste, Kirche und systemtreue Oligarchen stehen fest an seiner Seite. Putin selbst lässt offen, wie die Machtfrage nach seiner laut Verfassung letzten möglichen Amtszeit 2024 gelöst wird.
Auch bei einer möglichen Nachfolgeregelung dürfte Putin ein gewichtiges Wort mitreden, ist Korrespondentin Tschirky überzeugt: «Eine Möglichkeit scheint seit dem Machtwechsel vor 20 Jahren ausgeschlossen: Eine freie Wahl, deren Ergebnis nicht im Vornherein feststeht.»