Leute wie Fjodor Lukjanow gibt es nicht viele in Moskau: Der Politologe ist kein Oppositioneller. Er ist dem Kreml mit einer gewissen Sympathie verbunden. Gleichwohl analysiert er die russische Aussenpolitik mit einer kühlen Distanz. «Russlands aussenpolitischer Spielraum ist grösser geworden, weil es international aktiver geworden ist – und weil viele Länder auch Interesse an einer engeren Zusammenarbeit haben.» Mit anderen Worten: Russland ist wieder wer in der Welt.
Der Syrien-Krieg habe bei dieser Entwicklung eine ganz wichtige Rolle gespielt: «Seither wird Russland in der Region ganz anders wahrgenommen.» Als Beispiel nennt er Saudi-Arabien: Der saudische König hat Putin kürzlich mit Pomp empfangen. Zudem stimmen sich die Saudis bei der Ölförderung mit Moskau ab, um den Preis auf dem Weltmarkt zu beeinflussen. Lukjanow ist überzeugt: Ohne die russischen Erfolge in Syrien wäre es nie soweit gekommen.
Flexibel mit Feindschaften
Militärische Stärke und Entschlossenheit als zwei Pfeiler des russischen Wiederaufstiegs zur Grossmacht also. Lukjanow nennt noch ein anderes Prinzip, das Russlands Rolle auf der Weltbühne gestärkt hat: «Russland ist sehr flexibel. Es konnte im Nahen Osten mit allen Staaten gute Beziehungen bewahren – auch mit solchen, die sich gegenseitig feindselig gegenüberstehen, etwa dem Iran und Israel.»
Russland rede mit allen. Und habe dabei keine «ideologischen Scheuklappen», so Lukjanow. Im Gegensatz zum Westen, für den Assad wegen krasser Missachtung von Menschenrechten kein Partner mehr ist. Macht Putin also eine Politik ohne moralische Grundsätze? «Im Nahen Osten liess sich auch der Westen nicht von moralischen Überzeugungen leiten. Absichten mögen gut sein», aber die Resultate westlicher Politik, etwa im Irak und in Libyen, seien verheerend. Russland habe in Syrien immerhin zu einer gewissen Stabilisierung geführt.
Putin ist kein Stratege. Aber er hat ein Gefühl, wo er etwas erreichen kann – wenn er schnell und entschlossen handelt.
Einwenden könnte man, dass diese Stabilisierung mit einer rücksichtslosen Kriegsführung erreicht worden ist. Was aber stimmt: Seine Ziele hat Russland erreicht – Assad ist immer noch an der Macht, Moskaus Einfluss in der Region hat gewaltig zugenommen. «Im Westen glauben deswegen einige, Putin sei ein grosser, genialer Stratege. Das stimmt nicht. Aber er hat ein Gefühl, wo er etwas erreichen kann – wenn er schnell und entschlossen handelt.»
Putin hindert nichts daran, pragmatisch mit westlichen Politikern zu reden. Der Westen ist es, der Mühe hat mit Putin.
Lukjanow schildert Putin als pragmatisch, stets auf seinen eigenen Vorteil bedacht – und völlig ideologiefrei. Aber es fällt auf, dass der autoritär regierende russische Staatschef ausgerechnet mit demokratischen Staaten, mit der EU vor allem, schwierige Beziehungen hat. Mit Diktatoren und Despoten versteht er sich gut. «Stimmt. Aber nicht Putin hat Scheuklappen, die ihn daran hindern, pragmatisch mit westlichen Politikern zu reden. Im Gegenteil: der Westen hat Mühe mit Putin.» Diese Sicht ist in Moskau ziemlich verbreitet.
«Ziemlich viel und ziemlich schweres Gepäck» belaste inzwischen diese Beziehungen zum Westen, sagt Lukjanow. Er glaubt nicht, dass sich das bald bessert. Und zwar, weil die EU zu sehr mit sich selber beschäftigt sei. Stichwort Brexit. Aber auch Russland steht vor Veränderungen: Putin muss laut Verfassung 2024 als Präsident abtreten. «Niemand weiss, wie diese Übergangsphase aussehen wird. Es wird viel Energie absorbieren.» Es kann also sein, dass sich der Kreml bald wieder vermehrt um Russland kümmern muss – als um die grosse weite Welt.