Grossbritannien erinnert sich an seine Rolle als Kolonialmacht. Wie wenn es um die eigene Bevölkerung ginge, wirft sich der britische Premier Boris Johnson ins Zeug für die Bürgerinnen und Bürger von Hongkong. Als vor einer Woche das umstrittene chinesische Sicherheitsgesetz in Hongkong in Kraft trat, stellte er den Hongkongern eine Aufenthaltsbewilligung und indirekt sogar die Staatsbürgerschaft in Aussicht. Johnson lässt sich damit auf einen Streit mit Peking ein. Er stehe unter Druck, sagt SRF-Korrespondent Patrik Wülser.
SRF News: Fühlen sich die Briten mit der ehemaligen Kolonie verbunden?
Patrik Wülser: Ja, eine solche Verbundenheit gibt es, sie ist spürbar. Im Parlament gibt es konservative Romantiker, welche wahrscheinlich immer noch vom britischen Empire träumen und so reden, als müsste man diese Kolonie von den Chinesen befreien. Aber die Mehrheit der Briten wünscht sich einfach klar eine Haltung gegenüber Menschenrechtsverletzungen. Aussenminister Dominic Raab sagte, dass Grossbritannien sich immer einsetzen werde, wenn Menschenrechte auf der Welt verletzt werden.
Man könnte Premier Boris Johnson vorwerfen, er schlage politisches Kapital aus dem Konflikt in Hongkong. Er bediene die China-Skepsis, die in Europa weitverbreitet ist, auch in Grossbritannien. Stimmt das?
Johnson neigt zum Populismus, aber in diesem Fall trifft es für einmal nicht zu. Johnson ist eigentlich China-freundlich, wenn man seine Biografie anschaut. Er hat sich bereits als Bürgermeister von London für gute Beziehungen mit China eingesetzt. Diesen Konflikt hat er deshalb sicher nicht gesucht. Die Ereignisse in Hongkong und die innenpolitische Empörung im eigenen Land drängen ihn nun in eine Rolle, die er nicht gesucht hat.
Es soll einen Brief von sieben ehemaligen Aussenministern geben, die ihn dringend gebeten haben, doch zu diesem Konflikt Stellung zu nehmen.
Er hat genug Baustellen. Eine weitere Front mit dem drittgrössten Handelspartner ist sicher nicht gewünscht. Und Johnson hat ja auch lange gewartet, bis er sich gemeldet hat. Er musste gedrängt werden, es soll einen Brief von sieben ehemaligen Aussenministern geben, die ihn dringend gebeten haben, doch zu diesem Konflikt Stellung zu nehmen.
Wenn nun wirklich drei Millionen Hongkonger nach Grossbritannien kämen, wie würden diese aufgenommen in Grossbritannien?
Das ist tatsächlich ein bisschen widersprüchlich. Die ganze Brexit-Debatte hat sich im Kern um die Einwanderung gedreht. Das Vereinigte Königreich ist ja aus der EU ausgetreten, um die Kontrolle über die Grenzen zurückzugewinnen. Wenn jetzt tatsächlich drei Millionen Menschen kommen würden, würde das sicher Unruhen auslösen. Sie werden aber wahrscheinlich nicht kommen. Das sagen Beobachter und Experten. Denn die Offerte gilt nur für Menschen mit einem sogenannten Overseas-Pass in Hongkong, also für die, die 1997 diesen Pass hatten. Es wird also nicht zu einem Exodus kommen.
Ob er den drittgrössten Handelspartner China jetzt vor den Kopf stossen will, das muss sich Johnson sehr genau überlegen.
China hat natürlich nicht erfreut reagiert auf die Ankündigungen aus London. Kann sich Grossbritannien ein Zerwürfnis mit China leisten?
Nein. Auch gemässigte Politiker in London warnen vor diesem Zerwürfnis. Das Vereinigte Königreich muss nach dem Austritt aus der EU seinen Platz in der Welt vor allem wirtschaftlich neu finden, neu definieren. Die Zukunft mit Brüssel steht noch völlig in den Sternen. Das Verhältnis zu Donald Trump, obwohl er das Blaue vom Himmel verspricht mit seinem Freihandelsvertrag, ist völlig unberechenbar. Und ob er den drittgrössten Handelspartner China jetzt vor den Kopf stossen will, das muss sich Johnson sehr genau überlegen.
Das Gespräch führte Roger Brändlin.