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Sorgen wegen Deutschland «Ohne stabile Regierung in Berlin ist Brüssel blockiert»

Die deutsche Regierungskrise hat Auswirkungen auf die EU – auch wenn SRF-Korrespondent Oliver Washington noch keineswegs von einer «Krise» sprechen will.

SRF News: Etliche EU-Politiker äusserten sich spürbar besorgt über die Regierungskrise in Deutschland. Weshalb die Sorge?

Oliver Washington: In der EU stehen in nächster Zeit wichtige Entscheide wie der Brexit oder die Weiterentwicklung von EU und Eurozone an. Bei wichtigen Themen geht es nur voran, wenn Deutschland mitzieht. Deshalb ist die EU auf eine stabile und handlungsfähige deutsche Regierung angewiesen, die in Brüssel Kompromisse eingehen kann und weiss, dass sie zuhause in Berlin eine Mehrheit hinter sich hat. Ohne stabile und handlungsfähige Regierung in Berlin ist auch Brüssel blockiert, weil keine wichtigen Entscheide gefällt werden können.

Was bedeutet es konkret für die EU, dass Deutschland möglicherweise über Monate hinweg als starker Partner ausfällt?

Als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Mitte September seine «State of the Union»-Rede hielt, sprach er von einem «Window of Opportunity». Er meinte damit ein Fenster, das sich nach den deutschen Wahlen Ende September öffnen werde, um grosse und wichtige Projekte der EU anzupacken. Das Fenster wird sich im Frühling 2019 wieder schliessen. Dann wird ein neues EU-Parlament gewählt und eine neue EU-Kommission samt EU-Kommissionspräsident bestellt. Je länger man nun auf eine neue deutsche Regierung warten muss, desto kürzer wird diese «Phase der Möglichkeiten».

Vielleicht ist Macron ein wenig erleichtert, dass ihm zumindest fürs Erste eine Regierungsbeteiligung der FDP erspart bleibt.

In den Diskussionen über die Zukunft der EU wird immer vom deutsch-französischen Motor gesprochen. In Wahrheit kamen Anstösse für eine Weiterentwicklung in letzter Zeit aber vor allem aus Paris, von deutscher Seite kam wenig Konkretes. Stimmt dieser Eindruck?

Ja. Aus Berlin kam erschreckend wenig, niemand weiss, welche europapolitischen Schwerpunkte Angela Merkel setzen möchte. Einzig von der FDP war zu vernehmen, dass sie gewisse Vorstellungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zurückweist. Vor den deutschen Wahlen war in verschiedenen Medien zu lesen, eine Regierungsbeteiligung der FDP wäre Macrons Alptraum. Insofern dürfte dieser nun mit gemischten Gefühlen nach Berlin blicken: Natürlich ist er besorgt, weil Berlin keine handlungsfähige Regierung hat, die ein Partner wäre, um seine Projekte anzugehen. Vielleicht ist er aber auch ein wenig erleichtert, dass ihm zumindest fürs Erste eine Regierungsbeteiligung der FDP erspart bleibt. Denn sie hätte ihm das Erreichen einiger seiner Ziele stark erschwert.

Symbolbild: EU-Flaggen und Menschen, aufgenommen auf dem Berliner Gendarmenmarkt.
Legende: Ohne Deutschland geht in Brüssel nicht viel: Demonstration für die Zukunft Europas in Berlin im September 2017. Imago

Auch wenn aus Berlin wenig neue Ideen kommen: Warum ist Kanzlerin Merkel dennoch so wichtig für die EU?

Weil sie die Kanzlerin Deutschlands ist und nach dem Brexit oder der Wahl von US-Präsident Donald Trump in die Rolle derjenigen schlüpfte, welche in unruhigen Zeiten Stabilität zu garantieren schien. Nun ist das ins Wanken geraten, weil sie selber inzwischen auf einem instabilen Untergrund steht.

Viele in der EU sehen in Merkel die Ursache für zahlreiche Krisen.

Daneben gibt es in der EU aber auch andere Sichtweisen auf Merkel: Für die südlichen Länder ist die Kanzlerin, zusammen mit dem langjährigen Finanzminister Wolfgang Schäuble, der Inbegriff der ungeliebten Sparpolitik. Für die östlichen EU-Länder ist sie der Inbegriff einer verfehlten Flüchtlingspolitik. Damit sehen viele in Merkel die Ursache für zahlreiche Krisen in der EU. Trotz all dieser unterschiedlichen Haltungen gegenüber der Kanzlerin: Es ist klar, dass die EU eine handlungsfähige deutsche Regierung braucht.

Kommt die Ungewissheit in Berlin für die EU angesichts des Brexit oder der Unstimmigkeiten mit den osteuropäischen Mitgliedsländer zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt?

Ja, vor allem, weil dieses «Window of Opportunity» nun weniger lang offensteht. Allerdings kann man derzeit keineswegs von einer Krise der EU sprechen. Eine solche könnte sich aber dann anbahnen, wenn es in Deutschland zu Neuwahlen kommen sollte und auch danach keine handlungsfähige Regierung zustande käme.

Das Gespräch führte Christina Scheidegger.

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