Ihre Rufe sind laut und fordernd: Seit Anfang Oktober rebellieren die Menschen im Irak. Sie wollen endlich eine bessere Zukunft. Es fehlt an Arbeitsplätzen, an Sicherheit, an einer intakten Infrastruktur und an Vertrauen in die irakische Zentralregierung.
Es sind die grössten Proteste seit Jahren. Doch nach dem jüngsten Eklat zwischen dem Iran und den USA haben die Menschen Angst, dass ihre Stimmen untergehen – im gefährlichen Machtspiel zwischen den USA und dem Iran.
Der Rapper und der Tuktuk-Fahrer
Die «Rundschau» hat Protestierende rund um den Tahrir-Platz in Bagdad begleitet. «Die Leute protestieren, weil die Regierung ihr grundsätzlichstes Recht verletzt: Das Recht auf Leben», sagt Mohammed Shukri. Er ist ein populärer Rapper und Schauspieler. Aufgewachsen in einem ärmlichen Quartier von Bagdad, kennt er die Probleme aus erster Hand, ist mit Krisen und Krieg gross geworden.
Mittendrin bei den Demonstrationen ist auch Tuktuk-Fahrer Hussein. Normalerweise arbeitet er mit seinem motorisierten Dreirad als Taxifahrer. Jetzt fährt er während den Demonstrationen pausenlos verletzte Protestierende ins Spital.
Dreiräder retten in Bagdad zurzeit als Mini-Ambulanzen Leben. Sie sind so eine Art Symbol für die Proteste geworden. Tuktuk-Fahrer Hussein: «Wir sind eine grosse Familie geworden. Jeder hat seine Rolle – wie zu Hause. Es gibt solche, die kochen, solche die putzen und solche die das Tränengas wegmachen.»
Nein zu Amerika, nein zum Iran
Die Demonstrationen, die von vielen auch Revolution genannt werden, vereinen: Herkunft oder Religion rücken in den Hintergrund. Es ist das Aufbegehren der Zivilgesellschaft, die sich einen Neuanfang wünscht.
Doch viele werden sie nicht mehr erleben. Seit Oktober starben Hunderte, Tausende sind verletzt. Die politische Elite versucht mit aller Härte und mithilfe von Milizen die Proteste niederzuschlagen. Nun wehren sich die Leute auf der Strasse nicht nur gegen die eigene Regierung, sondern singen auch «nein zu Amerika» und «nein zum Iran». Denn die Schlagzeilen der letzten Wochen machen deutlich: Im Ringen um die Vorherrschaft am Persischen Golf liegt der Irak mittendrin. Der Konflikt zwischen den Kontrahenten Iran und USA wurde offen ausgetragen – auf irakischem Boden.
«Ich kann nicht sagen, wer am schlimmsten ist», sagt die irakische Journalistin Rafal Al Aziz. Auch sie ist seit Oktober auf der Strasse. «Als unabhängiges Land lehnen wir jegliche Einmischung des Auslands ab. Warum sollen wir das Schlimmste ablehnen und dafür das weniger Brutale akzeptieren», fragt sie.
Blutige Vergangenheit
Es geht um Einfluss, um Strategie, um Öl: Beim Schlüsselstaat im Nahen Osten haben ausländische Mächte kräftig mitgewirkt. Kriege, Besatzung, Terror – die jüngere Vergangenheit des Iraks ist blutig.
Die Amerikaner haben es nicht geschafft, nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein für Ruhe und Stabilität zu sorgen. Der Iran hat in den letzten Jahren seinen Einfluss auf Irak ausgebaut. «Irakische Politik ist nicht wirklich eine irakische Politik», sagt Musiker Shukri. «Wir wissen, dass andere Länder hier eingreifen und Druck auf unsere Regierung ausüben.» Die Protestierenden wollen weder als proiranisch noch als proamerikanisch gelten.
«Ich habe Angst, dass die Revolution nicht erfolgreich sein wird», sagt Mohammed Shukri. «Das wäre ein grosser Verlust für uns, weil wir viele Menschen verloren haben – viel Blut. Es wäre so unfair, wenn dabei nichts Positives herauskommt.»