Olena ist wütend. Vor wenigen Wochen musste sie ihre Heimatstadt Cherson im Süden der Ukraine verlassen. In der von Russland besetzten Stadt zu leben, schien ihr unmöglich. Erst recht, nachdem ein Lehrer-Kollege an ihrer Universität spurlos verschwunden war.
Die Wut auf alles Russische ist so gross, dass Olena entschieden hat, nicht mehr Russisch zu sprechen. Cherson sei eine zweisprachige Stadt. Sie rede gleich gut Russisch wie Ukrainisch. Aber Russisch zu reden, nach allem, was sie erlebt habe – das könne sie nicht. So gehe es auch ihren Eltern, die sich mit ihr zusammen auf die Flucht machten.
Verzicht auf «diese Sprache»
Er verstehe den Entscheid Olenas, sagt Andrey. Der 39-Jährige lebt ebenfalls im Südosten der Ukraine in Mykolajiw. Auch sein Ziel ist es, auf die russische Sprache zu verzichten, sagt der Volksschullehrer.
Aber er denke nun mal auf Russisch und kommuniziere auch so mit seinen Eltern. Mit dem Unterschied, dass er die Sprache nicht mehr Russisch nennt – sondern «diese Sprache». Auch, weil er sich selbst nicht mit Russland und der russischen Kultur in Verbindung bringen wolle.
Unterschiede der Generationen
Ukrainisch zu sprechen, mache ihm Freude. Er ist überzeugt, dass er dereinst nur noch Ukrainisch reden werde. Aber dafür brauche er noch etwas Zeit. Als Andrey 1983 auf die Welt kam, war die Ukraine noch Teil der Sowjetunion.
Dieses Erbe – die sowjetischen Traditionen und die russische Sprache – habe ihn geprägt. Und bis heute spricht eine Mehrheit der Menschen in Mykolajiw mehrheitlich Russisch. Nicht jedoch die jüngere Generation.
Im Unterricht rede Andrey konsequent Ukrainisch. Schliesslich sei Ukrainisch seit der Unabhängigkeit 1991 die einzige Amtssprache. Jedes Land habe seine Symbole. Die Sprache sei eines davon; ein Erkennungszeichen der Nation.
Worte, die auch Wladimir Klitschko unterschreibt. Der ehemalige Box-Weltmeister ist russischsprachig aufgewachsen. Seit Beginn der russischen Invasion ist er ein prominentes Gesicht des ukrainischen Widerstands; oft zu sehen an der Seite seines Bruders Vitali, Bürgermeister der Hauptstadt Kiew.
Ganz auf die russische Sprache zu verzichten, sei für ihn aber aus mehreren Gründen schwierig: «Ich kann nicht mit meiner Mutter Ukrainisch reden. Sie ist aus Sibirien. Und ich kann nicht so gut ukrainisch wie mein Bruder. Wenn ich unterwegs bin, nutze ich die russische Sprache.»
Der 24. Februar und der Beginn der russischen Invasion in der Ukraine hat aber auch Wladimir Klitschko dazu bewogen, sein Verhältnis zur russischen Sprache zu überdenken. Er habe sich vorgenommen, besser Ukrainisch zu lernen, so der 46-Jährige:
«Ich stehe dazu, dass ich Ukrainer bin, dass ich Ukrainisch sprechen muss. Es ist eine Wiedererkennung der Nation und der Nationalität. Es ist ein politisches Thema. Aber auf der Strasse hört man die russische Sprache. Man hat kein Problem damit.» Man müsse es jedoch akzeptieren, wenn ein Gesetz sagt, die Amtssprache sei Ukrainisch.
Ich stehe dazu, dass ich Ukrainer bin, dass ich Ukrainisch sprechen muss. Es ist eine Wiedererkennung der Nation und der Nationalität.
Und trotzdem, so betont Klitschko, sei die Ukraine ein tolerantes Land, in dem Menschen aus hundert Nationen mit ebenso vielen Sprachen lebten. Wenn Russland also davon rede, dass die Ukraine Russisch verbieten wolle, dann sei das reine Propaganda.