Wenn am Sonntag in Moskau das Stadtparlament gewählt wird, stehen sie alle nicht auf den Wahlzetteln: Ilja Jaschin nicht, Ljubow Sobol nicht, Dmitri Gudkow auch nicht. Die Führungsriege der liberalen Moskauer Opposition ist von der Wahl ausgeschlossen. Mehrere Sympathisanten der Opposition sind in Haft.
Hat sich also der repressive Staat durchgesetzt, die Opposition verloren? Nein, sagt der Politologe und Universitätsdozent Alexander Kynew entschieden: «Im Gegenteil: Die gesellschaftliche Stimmung hat sich zu Gunsten der Opposition geändert. Die Moskauer sind politisiert worden, viele haben Sympathien für die Proteste und ärgern sich über das Vorgehen der Behörden.»
Laut Kynew hatte die demokratische Opposition über viele Jahre hinweg kein richtiges Führungspersonal. Die alten liberalen Politiker aus den 1990er-Jahren waren weg, neue kamen nicht nach. Das habe sich jetzt geändert: «Dank der Proteste gibt es wieder eine ganze Riege von Leuten, welche die Opposition anführen können.»
Nur «Systemopposition» erwünscht
Allerdings bleibt das Problem, dass diese Leute nicht kandidieren dürfen. Sie gelten für den Kreml als «Opposition ausserhalb des Systems» – im Gegensatz zur sogenannten «Systemopposition», zu der etwa die Kommunisten gehören.
Der Unterschied: Die Liberalen werden vom politischen Prozess ausgeschlossen, weil sie ein anderes politisches System wollen – eine Demokratie. Die Systemopposition dagegen akzeptiert den autoritären Putinismus und möchte höchstens hie und da kleinere Kurskorrekturen. Deswegen dürfen die Kommunisten kandidieren und die Liberalen nicht.
Ratschlag: «kluges Wählen»
Kynew sieht trotzdem Handlungsspielraum: Wenn die eigenen Leute nicht kandidieren dürfen, gehen die Anhänger der demokratischen Opposition trotzdem an die Urne und wählen etwa die Kommunisten. Es gehe den Leuten darum, das Machtgefüge aus der Balance zu bringen, so der Wissenschaftler.
Das Team von Oppositionspolitiker Alexej Nawalny nennt diese Taktik «kluges Wählen» und propagiert sie für den Wahlgang vom Sonntag. Ziel: Möglichst viele Systemoppositionelle ins Stadtparlament bringen und so verhindern, dass die Kreml-Partei «Einiges Russland» eine Mehrheit erringt.
Es geht darum, den Machtapparat aufzubrechen. Wo Brüche sind, entstehen vielleicht neue Freiheiten für echte Oppositionelle.
Regieren wird so schwieriger für Bürgermeister Sergej Sobjanin, einen Putin-Vertrauten. Die Kommunisten oder auch die Nationalisten von der so genannten «Liberaldemokratischen Partei» sind zwar insgesamt kremltreu, aber manche von ihnen erlauben sich doch eine eigene Meinung. Mit dem Aufbrechen des Machtapparats entstünden dann vielleicht neue Freiheiten für echte Oppositionelle, so Kynew.
«Gelenkte Demokratie» am Ende?
Ob der Plan aufgeht, ist unklar. Sicher aber ist, dass die von Putin erfundene «gelenkte Demokratie» nicht mehr funktioniert. Der Kreml hat über viele Jahre die politischen Prozesse fast total kontrolliert. Das ist vorbei. Viele Russen sind unzufrieden mit der Regierung. Vor allem, weil die Wirtschaft seit Jahren kriselt.
Kynew greift zu einem einprägsamen Bild: Die gelenkte Demokratie gleiche einem alten, rostenden und ständig reparaturbedürftigen Auto, dem allmählich das Benzin ausgehe.
«Inzwischen erinnert die gelenkte Demokratie an ein altes Auto. Überall setzt schon Rost an, man muss es ständig reparieren, und Benzin geht auch noch zur Neige.»
Wie akkurat die Analyse des kremlkritischen Politologen ist, wird sich am Sonntag zeigen. Die Wahlresultate werden einen Hinweis darauf geben, ob das System Putin nur ein paar Kratzer hat oder ob es schon richtig lottert.