Mancher reibt sich dieser Tage die Augen: Kemal Kilicdaroglu wettert gegen die Migranten in der Türkei, verspricht, «sie alle in ihre Heimat zurückzuschicken», wenn er bei der Stichwahl am Sonntag gewinnen werde.
Gemeint sind vor allem die über dreieinhalb Millionen syrischen Flüchtlinge, welche wegen des Bürgerkriegs in der Heimat seit über zehn Jahren in der Türkei Schutz suchen.
Die drastische Ankündigung ihres Spitzenkandidaten findet auf den Wahlveranstaltungen Beifall – wie auch der Pakt mit der ultranationalistischen «Partei des Sieges», die im ersten Wahlgang auf 2.2 Prozent der Stimmen kam. Diese und andere Kleinstparteien hatten den Rechtsextremisten und dritten Präsidentschaftskandidaten Sinan Ogan unterstützt und insgesamt 5.2 Prozent erhalten.
Kilicdaroglus Rechtsrutsch stösst auf Verständnis
Auf diese Unterstützung von rechts setzt jetzt Kemal Kilicdaroglu, um den Abstand von zweieinhalb Millionen Stimmen zum bisherigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bei der Stichwahl aufzuholen.
Nicht repräsentative Umfragen von SRF auf der Strasse bei Oppositionsanhängern in Istanbul zeigen: dieser Rechtsrutsch wird von vielen unterstützt. «Kilicdaroglu verwendet jetzt die gleiche Sprache wie Erdogan. Warum nicht? Schliesslich will er noch gewinnen!», sagt jemand. «Die Nationalisten haben im ersten Wahlgang überall mächtig zugelegt: fast 30 Prozent – wenn man alle drei Wahlbündnisse zusammenrechnet. Da steckt viel Wählerpotential drin. Da ist viel zu holen», erklärt ein anderer Passant in der Istanbuler Innenstadt.
Nur wenige stossen sich am fremdenfeindlichen Schwenk des Oppositionsführers. Für die meisten heiligt der Zweck die Mittel. «Diese nationalistische Rhetorik stellt Kilicdaroglu zwar vor ein moralisches Dilemma. Aber ich glaube nicht, dass er deshalb Wählerstimmen verlieren wird. Denn alle wollen nur eines: dass der jetzige Präsident geht», erklärt ein weiterer Passant.
Wie reagieren die Nichtwähler?
Auch Kemal Kan, Politikanalyst der unabhängigen Online-Platform Medyascop, ist überzeugt: «Klilicdaroglu hat die Erwartungen enttäuscht. Schliesslich lag er in den meisten Prognosen vor dem ersten Wahlgang vorn. Jetzt hat er seine Wahlkampfstrategie gewechselt. Anstatt vom ‹Frühling›, von einer neuen im Frieden vereinten Türkei, spricht er jetzt vom ‹Teufel›. Den malt er an die Wand, falls Erdogan diese Stichwahl gewinnen sollte. Und er sucht Schuldige für die wirtschaftliche und soziale Misere. Da passen die Flüchtlinge und Migranten bestens.»
Klilicdaroglu hat seine Wahlkampfstrategie gewechselt. Anstatt von einer neuen, im Frieden vereinten Türkei, spricht er jetzt vom ‹Teufel› Erdogan.
Doch eine Frage bleibt: Auf der Suche nach neuen Wählerstimmen am rechten Rand könnte Kilicdaroglu alte verlieren. Jene, die bei der Stichwahl nicht mehr abstimmen gehen – jene, welche die Zuversicht schon verloren haben, dass in der Türkei noch eine Wende möglich ist.
Von diesen vermeintlichen Nichtwählern ist momentan wenig zu hören, und die Umfrageinstitute geben ihnen nicht sehr viel Gewicht. Aber schon beim ersten Wahlgang lagen die Demoskopen ziemlich daneben. Einen mag es freuen: Präsident Erdogan. Er glaubt sowieso: Die Nationalisten werden ihn wählen. Das Original – und nicht die «billige Kopie» seines Herausforderers.