Der Drittplatzierte des ersten Wahlgangs bei der türkischen Präsidentenwahl, der Rechtsaussen-Politiker Sinan Ogan, hat seine Wählerinnen und Wähler dazu aufgefordert, ihre Stimme im zweiten Wahlgang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan zu geben. Ogan hatte gut fünf Prozent der Stimmen geholt.
Nicht nur deshalb liegen bei der türkischen Opposition die Nerven blank. Bis hinab in die WhatsApp-Gruppen der Basisaktivistinnen gehen die Vorwürfe, man habe nicht genügend an einem Strick gezogen.
Opposition bietet Angriffsfläche
Tatsächlich ist die türkische Opposition ein bunter Haufen von verschiedensten Parteien. Das Regierungslager dagegen ist straff organisiert. Präsidentschaftskandidat Kemal Kilicdaroglu versuchte vor dem ersten Wahlgang, daraus eine Tugend zu machen. Er sprach vom «Miteinander der verschiedensten Weltanschauungen in einer neuen Türkei».
Doch gegen die aggressive Rhetorik Erdogans kam er damit nicht durch. Der Präsident warf der Opposition nicht nur Führungsschwäche vor, sondern rundweg Landesverrat.
Kilicdaroglu wolle die Türkei dem Westen ausliefern, der moralisch dekadent sei, so Erdogans Angriffslinie. Mehr noch: Die Opposition hole sich auch Anweisungen bei kurdischen Terroristen, die darauf aus seien, die Türkei zu zerstören.
Kilicdaroglu greift Erdogan jetzt an
Noch vor einer Woche versuchte Kilicdaroglu, die Angriffe Erdogans wegzulächeln. Jetzt gibt er zurück. Vorbei mit den simplen Videos aus der bescheidenen Küche der eigenen Wohnung, wo Kilicdaroglu mit sanftem Blick und einer überteuerten Zwiebel in der Hand ein Ende der Wirtschaftskrise versprach.
Nach der Enttäuschung im ersten Wahlgang zeigt sich der Oppositionskandidat im Chefbüro – neben einem Porträt von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk.
Er wirbt nun ebenfalls mit Vehemenz um Stimmen im rechtsnationalistischen Lager. Erdogan habe Millionen Flüchtlinge illegal ins Land gelassen, und wenn nichts getan werde, bedrohe diese Flut das Überleben der Nation. So klingt der neue Kilicdaroglu.
Erdogan vom Kreml gesteuert?
Er nennt den Langzeitpräsidenten einen Möchtegern-Weltpolitiker, der die Vorherrschaft im Nahen Osten angestrebt habe, nur um jetzt vom Kreml gesteuert zu werden. Er wirft Erdogan vor, Landsleute zu Staatsfeinden zu erklären, wenn es ihm in gerade in die Tagespolitik passt.
War es nicht Erdogan, welcher der kurdischen Untergrundorganisation PKK vor seiner nationalistischen Kehrtwende einst die Hand zum Dialog reichte? So fragt Kilicdaroglu neben dem Porträt des Republikgründers.
Ob die neue Strategie aufgeht?
Auf Stimmen der Kurden angewiesen
Der Präsident selbst reist unterdessen durchs Erdbebengebiet und hofft, in den konservativen Landstrichen noch zusätzlich Terrain gutzumachen.
Derweil beschwört Kilicdaroglu vom Büro aus in scharfem Ton die kemalistische Tradition. Es ist ein schmaler Grat für ihn. Je türkisch-nationalistischer Kilicdaroglus Rhetorik, umso grösser das Risiko, dass er damit kurdische Wählerinnen und Wähler vor den Kopf stösst.
Doch auf deren Unterstützung ist der Oppositionskandidat ebenfalls angewiesen, wenn er am nächsten Sonntag gegen Erdogan tatsächlich noch eine Chance haben will.