Die Türkei wählt ein neues Parlament und vielleicht auch einen neuen Präsidenten, sollte der bisherige Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan abgewählt werden.
Es ist eine Schicksalswahl, besonders für junge Menschen, die der Gesellschaftspolitik von Erdogan kritisch gegenüberstehen. Drei davon sitzen um einen Salontisch in einer Wohngemeinschaft.
An einer Kundgebung an der Uni hat die Polizei mich an den Haaren zerrend abgeführt.
Es wird geraucht und getrunken – ein ausgelassener, aber politischer Abend zuhause. Die WG liegt im Istanbuler Stadtteil Suadiye, der für Vielfalt und Freiheit steht. Auf der Strasse zieren violette Anstecker mit feministischen Sujets oder solche in den Regenbogenfarben der LGBT-Community viele Jacken und Rucksäcke.
Doch der Schein trügt, sagt Sena: «Seit die AKP von Präsident Erdogan an der Macht ist, sind wir Leute, die feiern wollen, Menschen, die sich frei ausdrücken wollen, LGBT-Menschen, Alevitinnen und Kurden, enorm unter gesellschaftlichem Druck.» Sie spüre das immer wieder am eigenen Leib, sagt die 28-Jährige weiter.
Polizeigewalt an Weltfrauentag und Pride
Trotz des gesetzlich verankerten Rechts, friedlich demonstrieren zu dürfen, greife die Polizei «nicht gerade unzimperlich» zu, wie Sena sagt. An der Demonstration zum Weltfrauentag habe man Polizeihunde auf sie gehetzt. Und: «An einer anderen Kundgebung an der Uni hat die Polizei mich an den Haaren zerrend abgeführt.»
Es habe zwar einen ärztlichen Bericht über ihre Verletzungen gegeben, «aber dennoch blieben rechtliche Konsequenzen für die Polizei aus», sagt Sena. Sie hoffe, dass mit einem Regierungswechsel, Frauen und marginalisierte Gruppen besser geschützt werden.
«Die Türkei muss wieder die Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen unterzeichnen und es braucht auch mehr Rechte für die LGBT-Community, sodass wir zumindest eine sichere Pride durchführen können», sagt die junge Frau, die als Social-Media-Managerin arbeitet. An dieser Pride-Parade in Istanbul wird für die Rechte von Schwulen und Lesben getanzt.
Existenzen müssen gesichert werden
In der Runde sitzt auch Su. Die 27-Jährige ist Kulturschaffende und organisiert grosse Konzerte und Partys im ganzen Land. Die Aufhebung der Sperrstunde, überhaupt kulturelle Freiheiten, findet auch sie wichtig.
Aber: «Solange die Menschen mit dem staatlich vorgeschriebenen Mindestlohn nicht überleben können, müssen aus meiner Sicht als erstes die Existenzen gesichert werden.» Dies sei ein enormer Druck für alle – und der müsse weg.
Gewinnt Erdogan, wollen viele auswandern
Ohnehin ist das Ausland für junge Menschen in der Türkei ein wichtiges Thema. Viele wollen auswandern: Warum so lange studieren, um dann in einem eigentlich guten Job mit geregeltem Einkommen trotzdem fast mittellos zu leben? Das fragen sich viele wegen der schwindenden Kaufkraft. Auch die WG habe schon ans Auswandern gedacht.
Als Student konnte ich mit kleinem Budget noch bescheidene Ferien in Europa machen.
Su aber ist geblieben, weil sie kämpfen und Widerstand leisten wolle: «Dennoch halte ich mich bereit, um jederzeit gehen zu können. Wenn Erdogan noch einmal wiedergewählt werden sollte, dann frage ich mich schon, wie unsere Lebensweise hier noch existieren soll.»
Die meisten Jungen in ihrem Umkreis seien hoffnungsvoll im Hinblick auf die bevorstehende Wahl. Auch deshalb, weil das Oppositionsbündnis geschlossen auftrete – von links bis konservativ und teilweise auch religiös. Das habe es selten gegeben, ist sich die WG einig – und das rieche nach Veränderung.