In der Türkei kommt es in zwei Wochen zur Stichwahl um die Präsidentschaft, zum ersten Mal überhaupt in der Geschichte des Landes. Keiner der Kandidaten hat im ersten Wahlgang das absolute Mehr der Stimmen erreicht. Allerdings liegt Amtsinhaber Recep Tayip Erdogan recht deutlich vor Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu. Maurus Reinkowski, Professor für Nahoststudien an der Universität Basel, über das Wahlresultat – und neue Bruchstellen in der türkischen Gesellschaft.
SRF News: Die meisten Umfragen hatten der Opposition ein besseres Resultat vorausgesagt. Warum ist es nun doch anders gekommen, als viele es erwartet hatten?
Marus Reinkowski: Die naheliegendste Erklärung wäre: Die sehr schlechte ökonomische Situation oder auch das Versagen der Regierung beim Erdbeben haben nicht die Wirkung unter der Wahlbevölkerung entfaltet, wie das viele Beobachterinnen und Beobachter inner- und ausserhalb der Türkei angenommen hatten. In den vier Provinzen, in denen das Erdbeben am schlimmsten zugeschlagen hat, hat die AKP nur etwas mehr verloren als im Landesdurchschnitt.
War bei der Opposition und vielen internationalen Beobachterinnen und Beobachtern auch schlicht und einfach der Wunsch nach einem Wandel in der Türkei da?
Die internationalen Medien waren zu einem überwiegenden Teil für die Abwahl Erdogans. Einmal aus allgemeinen Gründen: Jemand, der so lange an der Macht war, sollte einmal abtreten und neuen Gedanken und Personen Platz machen. Aber natürlich auch, weil man die Abwendung der Türkei vom Westen nicht wertschätzt.
Viele Kommentatorinnen und Kommentaren sprechen im Nachgang der Wahl von einer tiefen Spaltung der Türkei. Deutet das Resultat auch für Sie in diese Richtung?
Sowohl als auch. Die klassische Spaltung in der Türkei zwischen einem islamisch-konservativen und einem säkular-westlich orientierten Lager gilt nicht mehr wie auch schon. Insgesamt zeigen diese Wahlen eine sehr starke nationalistische Orientierung. Das Wählerpotenzial von extrem nationalistischen Parteien lag in der Türkei immer zwischen 10 und 15 Prozent. Bei dieser Wahl ist es deutlich über 20 Prozent.
Der grösste Teil der Opposition ist dazu bereit, auf die Kurden und ihre politische Bewegung zuzugehen. Die jetzige Regierung nicht. Der zweite wesentliche Unterschied ist, dass die jetzige Regierung eine anti-westliche Symbolpolitik betrieben hat. Die Opposition hat dagegen klare Signale Richtung Westen und Europa ausgesandt, dass man wieder zu einer vernünftigen Gesprächsbasis finden will.
Die Regierungsallianz ist ideologisch deutlich geschlossener als die Opposition.
Die Regierungsallianz ist ideologisch deutlich geschlossener als die Opposition. Die AKP hat sich seit 2015 immer mehr in Richtung einer nationalistischen Partei verwandelt. Das Islamische wird eingewoben in den Nationalismus, ist aber nicht mehr das bestimmende Element. Währenddessen ist die Opposition in sich viel heterogener: von links-sozialdemokratischen Elementen bis hin zu rechtsnationalistischen Schattierungen.
In zwei Wochen ist die Stichwahl angesetzt. Der Wahlkampf wurde zuletzt immer gehässiger. Was macht das Land, wenn es nun noch einmal in die Verlängerung geht?
Es wird so weiterlaufen wie bisher. Die Regierung wird ihre Übermacht bei der Kontrolle der Medien und Staatsorgane ausnutzen. Ich rechne aber nicht mit einer starken Radikalisierung. Die Regierung kann von einer sicheren Mehrheit ausgehen. Es gibt wenig Anzeichen dafür, dass die Opposition das noch einmal umdrehen könnte.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.