Der Generalsekretär hält die verschiedenen Gruppierungen und Strömungen im westlichen Militärbündnis zusammen. Auch jetzt während des Ukraine-Kriegs. Den Posten bekleidet seit mehr als acht Jahren Jens Stoltenberg – und er möchte im Herbst zurücktreten. Fredy Gsteiger, diplomatischer Korrespondent von SRF, erklärt, warum Stoltenbergs Ankündigung zur Unzeit kommt – und wer seine Nachfolge antreten könnte.
SRF News: Beobachter sind sich darüber einig, dass es schwierig wird, Stoltenberg zu ersetzen. Warum eigentlich?
Fredy Gsteiger: Zunächst, weil er seine Aufgabe während seiner Amtszeit sehr gut gemacht hat. Etwa, indem es ihm gelungen ist, den früheren amerikanischen Präsidenten Donald Trump davon abzubringen, die Nato zu verlassen. Das hätte gravierende Konsequenzen gehabt und hätte wohl das Ende der Nato bedeutet.
Zudem ist Stoltenberg breit akzeptiert. Einerseits bei den Regierungen der Nato-Mitgliedstaaten, andererseits aber auch in der Öffentlichkeit. Angesichts des Ukraine-Kriegs möchte die Nato derzeit alles andere, als eine Nachfolgediskussion führen zu müssen. Eine solche hat nämlich immer spalterische Tendenzen.
Was müsste der künftige Mann oder auch die künftige Frau an der Spitze der Nato mitbringen für diesen Job?
Er oder sie muss Brückenbauer sein. Die Nato gibt sich nach aussen immer einig, ist es aber nach innen überhaupt nicht. Die Interessen der USA und Kanadas, der Süd-, West- und Osteuropäer sind längst nicht immer dieselben. Die Länder und Ländergruppen haben jeweils andere Prioritäten.
Der Chef der Nato ist auch das Gesicht der Nato. Innerhalb der Nato-Länder, aber auch gegenüber Widersachern wie Russland oder China.
Weiter muss eine Generalsekretärin oder ein Generalsekretär dafür sorgen, dass die Nordamerikaner und die Europäer zusammenstehen. Das ist die Essenz der Militärallianz. Und: Der Chef der Nato ist auch das Gesicht der Nato. Innerhalb der Nato-Länder, aber auch gegenüber Widersachern wie Russland oder China.
Der Posten des Nato-Generalsekretärs ist im Lauf der Jahre wichtiger geworden. Deshalb möchte man heute nicht einen früheren Spitzendiplomaten oder eine ehemalige Ministerin. Man möchte jemanden, der zumindest Regierungschefin oder Staatspräsident war.
Ein Ausschlusskriterium gibt es wahrscheinlich: Es darf kein Amerikaner sein.
Das ist zwar nicht festgeschrieben, aber es ist Tradition. Die USA stellen nämlich immer den militärischen Chef der Nato, den Oberbefehlshaber. Im Gegenzug steht den Europäern der Posten des Generalsekretärs, also des politischen Chefs, zu. Wenn beide Posten den Amerikanern zufielen, würde die Nato schlicht als amerikanische Organisation und nicht mehr als transatlantische wahrgenommen. Es gilt also auf der Führungsebene ein gewisses Gleichgewicht zu schaffen.
Das Kandidatenfeld für die Nachfolge von Stoltenberg ist derzeit sehr unübersichtlich. Neben Wallace, Kallas und von der Leyen könnte man noch ein Dutzend weitere Namen nennen, vom holländischen Ministerpräsidenten bis zur Ex-Premierministerin von Grossbritannien. Eine klare Favoritin oder einen klaren Favoriten gibt es nicht.
Trotzdem: Wie lautet Ihre Einschätzung – wer wird es?
Wenn ich wetten müsste, würde ich sagen: Der jetzige Amtsinhaber Jens Stoltenberg ist auch der künftige. Er hat zwar klar signalisiert, dass er nach mehreren Amtszeitverlängerungen in seine norwegische Heimat zurückkehren möchte. Aber man versucht bereits, ihn trotzdem zum Bleiben zu bewegen. Er ist ein sicherer Wert und man möchte einen Nachfolgestreit vermeiden.
Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.