Die russische Armee hat die Infrastruktur für die Energieversorgung in der Ukraine massiv beschädigt. Viele Haushalte sind zeitweise oder sogar komplett ohne Heizung, Strom und Wasser. Wie werden sich Stromnotstand und Kälte auf die weitere Entwicklung auswirken?
Wie ist die Energiesituation zum Winterbeginn? Die Ukraine kämpft mit massiven Stromausfällen. Viele Haushalte erhalten nur noch maximal acht Stunden Strom täglich. Laut Netzbetreiber Ukrenerho fehlt landesweit mehr als ein Viertel und in Kiew mehr als ein Drittel der nötigen Strommenge. Importe aus dem Westen decken dabei höchstens zehn Prozent des Bedarfs. Zugleich versucht Ministerpräsident Denys Schmyhal zu beruhigen: 14 Milliarden Kubikmeter Erdgas und 1.3 Millionen Tonnen Kohle an Reserven reichten aus, um das Land mit Elektrizität und Fernwärme zu versorgen. Über 50 Prozent des Strombedarfs werden ohnehin durch Atom- und Wasserkraftwerke gedeckt.
Kann sich das Land mit Lebensmitteln versorgen? Bisher haben die Angriffe nicht zu Versorgungslücken geführt. Geschäfte und Märkte sind bis auf die frontnahen Gebiete gut versorgt. Wegen der Arbeitslosigkeit und Inflation können sich aber immer weniger Menschen Lebensmittel und andere Produkte des täglichen Bedarfs leisten.
Wird es eine neue Treibstoffkrise geben? Wegen der unvorhersehbaren Stromausfälle werden in der Ukraine massiv Stromgeneratoren eingesetzt. An den Tankstellen kommt es erneut zu langen Warteschlangen. Die Nachfrage nach Benzin und Diesel ist kurzzeitig um über 30 Prozent gestiegen. Dem von Treibstoffimporten abhängigen Land drohen bei neuen Luftschlägen auf das Stromnetz erneut leere Tankstellen.
Ist eine neue Flüchtlingswelle zu erwarten? Im Hinterland haben sich die Bewohner bereits auf Raketenangriffe und Stromausfälle eingestellt. An der Front ist vorerst nicht mit russischen Durchbrüchen zu rechnen, die eine neue Fluchtwelle auslösen könnten. Sollten neue russische Luftangriffe aber zu irreparablen Blackouts und Heizungsausfällen führen, könnten viele Ukrainer in die EU fliehen – insbesondere, wenn das aktuelle Frostwetter länger anhält. Kiew hat landesweit mit der Einrichtung von Aufwärmpunkten in Schulen, Kindergärten und grossen Zelten begonnen, die auch mit Stromanschlüssen und Internetverbindung ausgerüstet wurden.
Wie kann die Ukraine die Front im Winter versorgen? Verletzungen und technische Ausfälle werden aufgrund der Wetterbedingungen zunehmen. Auch die Versorgung ist schwieriger: Soldaten brauchen mehr Verpflegung, mehr Brennstoff und wärmere Kleidung. Im Gegensatz zum schlammigen Herbst bietet tiefgefrorenes Gelände immerhin die Möglichkeit, die Truppenverbände auch abseits von Strassen zu versorgen. Transporte mit der Eisenbahn sind aber durch die russischen Raketenangriffe nur eingeschränkt möglich.
Welche Auswirkungen wird der Winter auf die Kriegsführung haben? Im Winter wird die aktuelle operative Pause mit dem Herbstschlamm vermutlich beendet. Für die Ukraine, die auf schnelle Vorstösse setzt, ergeben sich damit bessere Voraussetzungen, ihre Taktik umzusetzen. Während die Russen immer noch überlegene Feuerkraft haben, sind die Ukrainer in der Manövrierfähigkeit überlegen. Wichtig wird allerdings sein, welche Seite ihre Soldaten und ihre Militärtechnik besser für den Winter ausgerüstet hat. Die meisten Beobachter sehen hier die Ukraine im Vorteil.