Zum Inhalt springen

Syrien nach der Diktatur Hitler, Franco, Assad: Wie wird eine Diktatur zur Demokratie?

Juristen, Lehrer, Polizisten: Die Nazis waren überall 1945. Für die alliierten Siegermächte ein grosses Problem: Wie soll in Deutschland eine Demokratie aufgebaut werden mit dem alten Personal? Wer bekommt einen sogenannten «Persilschein» und gilt als entnazifiziert? Schliesslich musste der Staat funktionieren, die Menschen sollten wieder Vertrauen fassen. Die ehemaligen Vertreter der Diktatur trugen nun wieder zivil, versuchten ihre Rolle unter Hitler zu verschleiern. Ich? Ein Nazi? Nein!

Viele verloren ihre Stellen, es gab Prozesse – den Nazi-Eliten wurde in Nürnberg der Prozess gemacht. Doch viele Alt-Nazis blieben in ihren hohen Staatsämtern – zum Beispiel Hans Globke, der fast nahtlos weiterarbeitete und dem ersten Nachkriegs-Kanzler Konrad Adenauer als Kanzleramtschef diente. Man spricht in diesem Fall von der «Kontinuität der Verwaltungseliten».

Natürlich kann man Diktaturen nicht vergleichen. Natürlich übersteigen Hitlers Verbrechen alles. Aber man kann darüber reden, wie sich Gesellschaften nach Traumata wieder erholen, wieder stark werden können.

In Spanien folgten nach der Diktatur Terror und Chaos

Auch in Spanien, nach der Franco-Diktatur war der Übergang schwierig. Spanien brauchte einige Jahre, um in der Demokratie anzukommen. Franco starb 1975, zwei Jahre später gab es die ersten Wahlen. Die Parteien waren schlecht aufgestellt – logisch nach Jahren der Repression – konnten sich kaum organisieren. Die ersten Jahre nach Franco waren blutig und brutal.

Auch nach dem Zusammenbruch der DDR nach dem Mauerfall gab es viele Fragen: Wer war Stasi-Spitzel? Wer schoss als Soldat an der innerdeutschen Grenze? Wer darf Lehrer bleiben, Polizist oder Jurist? Ein extrem schwieriger gesellschaftlicher Prozess – der von vielen Menschen sehr viel Vergebung verlangte.

Den Weg des Übergangs hat Syrien vor wenigen Tagen erst begonnen. Wer soll das Land wieder aufbauen? Sollen die alten Assad-Eliten auf ihren Stühlen sitzen bleiben? Gibt es Abstufungen? Ist jeder Beamte ein Krimineller? Der Rebellenführer al-Golani spielt hier eine zentrale Rolle. Wenn er will, dass die öffentliche Ordnung zumindest auf minimalem Niveau aufrecht erhalten bleibt, braucht er die alten Assad-Leute. Jemand muss die Polizei organisieren, das Passbüro, die Nationalbank. Aber werden die Menschen das akzeptieren?

Haben die Menschen in Syrien Kraft für Vergebung?

Bald schon will al-Golani Listen veröffentlichen mit Namen von Assad-Schergen. Wird das zu blutigen Revanchen führen? Beginnt eine Jagd auf die Vollstrecker der Assad-Diktatur? Haben die Unterdrückten die Kraft zur Vergebung – oder ist ihre Wut nach den Jahren der Demütigung unzähmbar? Und: Wer hat ein Interesse am Chaos, am Zorn?

Oder will man am liebsten gar nicht darüber sprechen und einfach weitermachen? Im Nachkriegsdeutschland machten das viele so. Alt-Nazis, die unter Hitler Todesurteile gesprochen hatten, wurden Ministerpräsidenten. Ärzte, die an brutalsten Experimenten beteiligt waren, waren bald Chefärzte. Erst die Studentenproteste der 1968er-Jahre brachen das Schweigen auf, eine grosse Welle der Aufarbeitung begann, der Nazi-Mief, wie ihn die Studentinnen und Studenten nannten, wurde ausgelüftet.

Doch hat Syrien so viel Zeit für einen differenzierten Prozess? Haben die Menschen die Geduld? Und die neuen Herrscher die Grösse? Die Zweifel sind allgegenwärtig – es bleibt die Hoffnung.

Stefan Reinhart

Leiter der Ausland-Korrespondentinnen und -Korrespondenten

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Stefan Reinhart ist Leiter der Ausland-Korrespondentinnen und -Korrespondenten und Chef vom Dienst im Newsroom Zürich. Zuvor war er Deutschland-Korrespondent für SRF.

Hier finden Sie weitere Artikel von Stefan Reinhart und Informationen zu seiner Person.

10vor10, 9.12.2024, 21.50 Uhr

Meistgelesene Artikel