Nach der Schreckensherrschaft des Assad-Regimes in Syrien stellt sich unter anderem die Frage, was mit dem riesigen Machtapparat geschieht. Nahostexperte Daniel Gerlach spricht von einer der grössten Gefahren für die geplante Transition, wenn das Land nicht in Rache und erneutem Chaos versinken soll.
SRF News: Sie sind aktuell an einem Dialog-Forum in Katar mit den Aussenministern der Türkei, Irans und Russlands. Was hören Sie dort?
Syrien ist hier das zentrale Thema. Niemand hat das plötzliche Ende des Assad-Regimes vorhergesehen. Es wird erzählt, dass ein russischer Vertreter, der über Syrien verhandeln sollte, stattdessen shoppen gegangen sei – ein Hinweis darauf, wie Russland mit der Situation umgeht. Inzwischen wissen wir, dass Bashar al-Assad in Moskau eingetroffen ist und dort politisches Asyl beantragt hat.
Assad hat nicht versucht, die Schlacht bis zum totalen Untergang zu schlagen.
Jahrelang hiess es, Assad sitze fest im Sattel. Wie konnte das Regime so schnell kollabieren?
Die Arroganz des Regimes war entscheidend. Assad war überzeugt, dass ihn ein Grossteil der Bevölkerung unterstützt. Diese Fehleinschätzung, kombiniert mit der geopolitischen Lage, in der Russland und Iran ihre Ressourcen anderweitig benötigten, führte zum Zusammenbruch. Das Regime war am Ende nicht mehr in der Lage, sich selbst zu verteidigen. Dennoch hat Assad am Schluss pragmatisch gehandelt. Er hat nicht versucht, die Schlacht bis zum totalen Untergang zu schlagen. Und das, denke ich, ist auch bei aller Verachtung für die Brutalität dieses Regimes anzuerkennen, dass Assad verstanden hat, wann es vorbei ist.
War das ein Volksaufstand gegen Assad?
Der syrische Krieg begann als Volksaufstand, aber nicht des gesamten Volkes – nur eines Teils. Es war kein Sieg der Islamisten, sondern eine Abkehr von einem Regime, das als schlimmer empfunden wurde als die Unsicherheiten der Zukunft.
Könnte sich Syrien zu einem sogenannten Gottesstaat entwickeln?
Ja, viele Rebellengruppen sind islamistisch. Aber wenn sie an der Macht bleiben wollen, dann brauchen sie Geld, dann brauchen sie wirtschaftliche Mittel, und die können sie nicht einfach aus der Staatskasse plündern. Die können sie nur erreichen, wenn sie die Wirtschaft im Land in Gang kriegen. Und das wird nur funktionieren mit einer Zusammenarbeit mit den städtischen Verwaltungen. Da müssen sich die Islamisten auch auf die Menschen in den Provinzen und in den Städten verlassen und müssen sich dementsprechend anpassen.
Viele, die unter Assad an Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folter und Unterdrückung beteiligt waren, leben weiterhin inmitten der Bevölkerung.
Assad ist weg. Was ist mit seinem Machtapparat?
Das ist eine der grössten Gefahren in der geplanten Transition. In diesen Tagen sehen wir Bilder von Menschen, die aus den Gefängnissen befreit werden, wo sie unter unmenschlichen Bedingungen vergessen wurden. Diese Szenen wecken das Bedürfnis nach Rache. Viele, die unter Assad an Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folter und Unterdrückung beteiligt waren, leben weiterhin inmitten der Bevölkerung. Syrien muss einen Weg finden, diese Menschen rechtsstaatlich zur Verantwortung zu ziehen, ohne in Rache zu verfallen und das Land erneut ins Chaos zu stürzen – eine immense Herausforderung.
Nach so vielen Jahren Bürgerkrieg – was bedeutet der Umsturz Syriens für den Westen?
Europa hat eine grosse Chance und Verantwortung. Mit Hunderttausenden gut ausgebildeten Syrern in Europa, darunter viele in der Schweiz, gibt es das Potenzial, das Land wiederaufzubauen. Dies sollte nicht ungenutzt bleiben.
Das Gespräch führte David Karasek.