Die Taliban rücken in Afghanistan vor. Die Kämpfe verlagern sich zunehmend in die Provinzstädte. Nach dem Anschlag nahe dem Haus des Verteidigungsministers herrsche auch in der Hauptstadt Kabul gedrückte Stimmung, berichtet Ellinor Zeino von der lokalen Konrad-Adenauer-Stiftung.
Wie ist die Lage aktuell in Kabul?
Ellinor Zeino: Für Kabuler Verhältnisse ist es noch relativ ruhig. In den letzten Wochen und Monaten gab es sehr wenige Anschläge. Gestern dann der komplexe mehrstündige Anschlag auf den Verteidigungsminister. Zurzeit gibt es eine Bürgerbewegung, die sich in den sozialen Medien gegen die Taliban wendet und dazu aufruft, zu gewissen Zeiten «Allahu Akbar» zu rufen. Das war gestern parallel zu den Schüssen und Explosionen der Fall und sorgte für eine bewegende und bedrückende Stimmung.
Wie ist der Anschlag auf den Verteidigungsminister zu interpretieren?
Es war ein sehr grosser symbolischer Akt, den die Taliban auch schon für sich beansprucht haben. Symbolisch vor allem, weil die Taliban mit dem Doha-Agreement und dem Beginn des Truppenabzugs eigentlich keine grossen Anschläge in den Städten durchführen wollten. Jetzt sind die Signale von der Taliban-Führung wie auch von der afghanischen Regierung klar auf Krieg ausgerichtet. Gleichzeitig hat sich noch keine Seite vom offiziellen politischen Verhandlungsprozess verabschiedet.
Jetzt sind die Signale von der Taliban-Führung wie auch von der afghanischen Regierung klar auf Krieg ausgerichtet.
Was ist das Ziel der Taliban?
Das ist die grosse Frage. Die politische Führung der Taliban will zurück an die politische Macht und eine islamische Gesellschaftsordnung etablieren. Sie hat aber auch meines Erachtens kein Interesse an einem Bürgerkrieg. Mittlerweile ist die Taliban-Bewegung aber sehr heterogen geworden. Ein Friedensabkommen birgt auch das Risiko, dass sich viele radikale Mitglieder dschihadistischen Gruppen anschliessen. Ebenso denkbar ist, dass Gebiete von unterschiedlichen Gruppen kontrolliert werden, wie das bereits teilweise schon der Fall ist.
Hat die Regierung die Schlagkraft der Taliban unterschätzt?
Die Taliban sind unterschätzt worden. Es war doch sehr überraschend, wie schnell sie auch den Norden überrennen konnten, wo deren Anhängerschaft nicht stark ist. Die Taliban sind aber auch stärker, weil sie Verluste einfach hinnehmen und neue Rekruten bekommen. Die afghanische Armee dagegen kann fast 50 Prozent ihrer Stellen kaum mehr neu rekrutieren, weil niemand mehr in die Armee will.
Die Taliban sind aber auch stärker, weil sie Verluste einfach hinnehmen und neue Rekruten bekommen.
Welche Rolle spielt der schnelle Abzug der US- und Nato-Truppen?
Das löste sicherlich die Dynamik für die Terraingewinne der Taliban aus. Zugleich kam der Truppenabzug überraschenderweise auch für die Bündnispartner ganz bedingungslos. Die Umsetzung erfolgte ohne weitere Bedingungen an die Taliban, was ihnen den Auftrieb gab.
Welche Folgen hat der Truppenabzug konkret?
Im Moment verliert die afghanische Armee deutlich an Moral und Schlagkraft. Mit der Schliessung der Basis geht auch der ganze strategische Informationsfluss verloren. Aber vor allem der Verlust des moralischen Rückhalts macht der Bevölkerung Angst. Sie weiss nicht, was auf sie zukommt und ob auch alle anderen internationalen Einrichtungen abziehen.
Vor allem der Verlust des moralischen Rückhalts macht der Bevölkerung Angst. Sie weiss nicht, was auf sie zukommt.
Wird sich die Zivilgesellschaft in Kabul weiter organisieren?
Zum Glück sehe ich noch viele Menschen, die bleiben wollen – solange es gehe oder auf jeden Fall. Es sind Menschen, die sich zivil engagieren, in den Medien und der Regierung. Ab einem gewissen Punkt werden sie sich aber in Sicherheit bringen müssen, und es wird vielleicht erneut einen Exodus geben.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.