Rund 130’000 Menschen seien aus der Region Kursk evakuiert worden, teilten die örtlichen Behörden mit. Das war Mitte August. Seither haben die Kämpfe nicht nachgelassen. Von offizieller russischer Seite sind aber kaum mehr Informationen über die vielen Geflüchteten gekommen.
Überforderter Staat
Ein Indiz dafür, dass der Staat überfordert ist, liefern die offiziellen Medien. Sie raten den Betroffenen, sich bei zivilgesellschaftlichen Hilfsorganisationen zu melden. Dabei hat der Kreml seit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine alles getan, um die russische Zivilgesellschaft zu ersticken. Nun braucht er ihre Hilfe.
Rund 180 Familien aus Kursk hätten sie geholfen, erklärt Kira Abramenko vom Hilfswerk «Haus mit dem Leuchtturm». «Die erste Frage lautet: Wo können diese Leute wohnen?», sagt sie. Dann helfe man den Betroffenen mit Essen, Kleidern, bei der Suche nach einer Arbeitsstelle oder einer Schule für die Kinder. Die Erfahrung zeige, dass solche Krisen meist länger andauern.
Organisationen wie diese brauche es in Russland, so Abramenko. «Die Hilfe von unserem Staat ist nicht immer so wirksam», sagt sie. Abramenko wählt ihre Worte vorsichtig. «Natürlich tun die Behörden, was sie können. Es gibt Notunterkünfte und Hilfsprogramme. Aber die anfänglichen Hilfsgelder, die man den Betroffenen ausgezahlt hat, waren viel zu niedrig. Menschen, die alles verloren haben, verdienen mehr.»
Die Zahlungen wurden später angehoben, aber die Grundprobleme, weswegen ihre Arbeit notwendig sei, existierten leider weiter, sagt Abramenko. Implizit meint sie damit den Krieg. Aber das Hilfswerk scheint sich mit dem Staat arrangiert zu haben. Abramenko sagt, die Behörden behinderten ihre Arbeit nicht.
Das gilt bei weitem nicht für alle. Swetlana Gannuschkinas Hilfswerk «Bürgerunterstützung» etwa hilft Migranten und Geflüchteten seit Jahrzehnten. Auch Menschen aus Kursk kommen zu ihr. Dabei habe sie kaum mehr Kapazität, Menschen zu helfen, so Gannuschkina. Ihr Hilfswerk ist offiziell als ausländischer Agent deklariert.
«Ganze Teams arbeiten daran, dass die Dokumente fristgerecht eingereicht werden», sagt sie. Ständig müssten sie den Behörden ausführlich über ihre Tätigkeiten berichten. «Die Fragen sind so absurd. Etwa, ob ich eine terroristische Organisation finanziere. Manchmal scherze ich: ‹Ja, mit meinen Steuern – die Russische Föderation.›»
Ausserdem darf ihre Organisation kaum öffentlich kommunizieren und muss überall darauf hinweisen, dass sie als «ausländischer Agent» gilt. Gegen Gannuschkina läuft derzeit ein Verfahren, weil sie den Stempel in einer privaten E-Mail nicht erwähnt hat – sie persönlich ist auch als «Agentin» deklariert.
Die Zivilgesellschaft ist immer eine Partnerin und eine Gegnerin der Regierung.
Die 82-jährige Gannuschkina wird von den russischen Behörden verhältnismässig mild behandelt. Aber ihre Arbeit wird, wo immer möglich, erschwert. Eine böse Ironie findet sie, dass sie vom Regime gemachte Probleme wie die Flüchtlingswelle aus Kursk nun ausbügeln muss. Der Staat, sagt sie, komme halt ohne Zivilgesellschaft nicht klar.
«Sie versuchen, ihre eigene Zivilgesellschaft mit treuen Organisationen zu kreieren», so Swetlana Gannuschkina. «Aber das geht nicht. Die Zivilgesellschaft ist immer eine Partnerin und eine Gegnerin der Regierung. Das müssten sie verstehen. Aber sie wollen es nicht verstehen.»