Der ukrainische Vorstoss in die russische Grenzregion Kursk bereitet dem Kreml Kopfzerbrechen. Nach mehr als einer Woche haben es russische Einheiten noch nicht geschafft, die Truppen der Ukraine aus dem Gebiet zu verdrängen. Bis die Russen koordiniert reagieren könnten, werde es eine gewisse Zeit dauern, schätzt Historiker Marcel Berni von der Militärakademie der ETH Zürich.
SRF News: Ex-Sicherheitschef Alexej Djumin soll für Putin die Lage in der Region Kursk klären. Wie schwierig wird das?
Marcel Berni: Das wird schwierig, weil es den ukrainischen Truppen seit einer Woche konstant gelingt, Land zu gewinnen. Sie legen jetzt auch Verteidigungsstellungen an und bauen sie aus. So wie es jetzt aussieht, sind die Truppen auf russisches Kernland ausgerückt, um dort zu bleiben.
Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs ist es einem anderen Land gelungen, wieder russisches Gebiet zu besetzen.
Am Donnerstag wurde auch der Ausnahmezustand in der Nachbarregion Belgorod ausgerufen. Wird es für die Russen gerade eher schwieriger?
Die Lage wird wohl nicht nur für die russischen Truppen, sondern auch für die russische Zivilbevölkerung schwieriger. Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs ist es einem anderen Land gelungen, wieder russisches Gebiet zu besetzen. Das ist doch ein ziemlich starker Paradigmenwechsel – nicht nur mit Blick auf den Krieg in der Ukraine, sondern auch mit Blick auf die gesamte russische Geschichte.
Kiew will im eroberten Gebiet eine Sicherheitszone einrichten. Was verspricht man sich davon?
Damit soll wohl dafür gesorgt werden, dass ukrainisches Gebiet weniger leicht beschossen, belagert oder noch angegriffen werden kann, wie das bei Charkiw immer noch passiert. Dort versuchen die Russen, eine weitere Front zu eröffnen. Die Sicherheitszone hat also einen militärischen Nutzen, aber durchaus auch einen moralisch-psychologischen Effekt.
Welche Bedeutung hat das von der Ukraine eroberte Gebiet militärisch?
Militärisch hat das Gebiet in Kursk keinen grossen Wert. Aber die Ukraine will wohl das Gebiet nicht als Schlüsselposition erobern, sondern militärischen Druck vom Donbass nehmen. Dort stossen die Russen seit Monaten zwar marginal, aber immer wieder vor. Kiew hofft nun, dass Moskau Truppen in Richtung Kursk abziehen muss und sich die Front im Donbass besser stabilisieren lässt. Ob der Plan aufgeht, ist schwierig zu beurteilen. Laut einzelnen Meldungen zieht Russland Truppen im Süden der Front ab, andere sprechen von Reserven, die für die Region Kursk rekrutiert würden. Die Ukraine hat offenbar den Spiess umgedreht und zwingt den Kreml zur Reaktion.
Ist das mehr als nur ein moralischer Sieg für die Ukraine?
Daraus ergibt sich mehr als nur ein psychologisch-moralischer Effekt. Die Ukraine macht derzeit viele Kriegsgefangene und Geländegewinne, die in allfälligen Friedensverhandlungen als Faustpfand ausgespielt werden könnten. Die Aktion zeugt zugleich von der Resilienz der Ukraine, die in den letzten Monaten immer wieder mit Kriegsmüdigkeit und personellen Schwächen konfrontiert war.
Momentan sind die russischen Kräfte alles andere als koordiniert. Das werden die ukrainischen Truppen nutzen.
Wird die Ukraine die eroberte Zone halten können?
Das wird auch davon abhängen, wie lange die russischen Reserven brauchen, um eine koordinierte Kampagne zu organisieren. Im Moment sind die russischen Kräfte alles andere als koordiniert. Diese Zeit werden die ukrainischen Kräfte nutzen, um so viel Gebiet wie möglich einzunehmen und zu befestigen.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.