Meldungen von der Frontlinie im Ukrainekrieg finden zwar nur noch selten grössere Beachtung. Dennoch ist die russische Armee an verschiedenen Stellen seit Wochen auf dem Vormarsch – langsam, aber stetig. Experten sprechen davon, dass Russland etwa einen Kilometer pro Tag vorstösst.
Wie gehen die russischen Truppen dabei vor? Militärexperte Wolfgang Richter über die militärische Lage in der Ukraine.
SRF: Mit welcher Taktik stossen die russischen Kampfverbände vor?
Wolfgang Richter: Die besteht im Wesentlichen daraus, aus der an der Front gewonnenen Personalüberlegenheit, Gewinn zu ziehen durch stetige und parallele Angriffe. Der Druck, insbesondere in der Region Donezk, hat erheblich zugenommen. Wahrscheinlich besteht auf der russischen Seite die Hoffnung, durch diesen zunehmenden Druck, aber auch durch die Frontverlängerung bei Charkiw, am Ende die ukrainischen Linien auszudünnen, um dann an irgendeiner Stelle tatsächlich einen operativen Durchbruch zu erzielen. Sollte das gelingen, wäre die ukrainische Lage prekär. Dann würde der statische Abnutzungskrieg in einen Bewegungskrieg übergehen.
Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass der russischen Armee ein Durchbruch gelingt?
Die Wahrscheinlichkeit ist im Moment nicht absehbar, obwohl es eine deutliche Überlegenheit der russischen gegenüber den ukrainischen Frontverbänden gibt. Allerdings sind die Ukrainer bisher gut vorbereitet gewesen, aber sie gehen jetzt schrittweise zurück. Die Gefahr besteht, dass zumindest im Bereich Tschassiw Jar ein weiterer Durch- oder Einbruch gelingen könnte, der dann auch die wichtige Stadt Kramatorsk gefährdet. Das ist die Stadt, in der sich das Hauptquartier der ukrainischen Ostarmee befindet.
Dann wären die Russen zumindest einen Schritt weitergekommen, ihr politisches Ziel zu erreichen. Nämlich, die vier annektierten Gebiete vollständig unter Kontrolle zu bringen. Das ist im Raum Luhansk weitgehend gelungen, in Donezk eben noch nicht, vielleicht zu 60 oder 70 Prozent. In den Gebieten Saporischschja und Cherson etwa zu 70 oder 80 Prozent. Das scheint im Moment das politische Ziel zu sein. Und dem entspricht auch die russische Taktik.
Einzelne Waffen sind nie ein Game Changer.
Immer wieder heisst es: Wenn der Westen nur ausreichend Waffen und Munition liefern würde, dann könnte die Ukraine den Krieg gewinnen. Ist das realistisch?
Wir haben vor der Sommeroffensive der Ukraine im letzten Jahr gesehen, dass der Westen schon erheblich geliefert hat. Dennoch ist diese ukrainische Gegenoffensive gescheitert. Man muss dabei alle Aspekte berücksichtigen. Erstens im Kontext des Gefechts verbundener Waffen: Einzelne Waffen sind nie ein «Game Changer», es muss immer im Systemzusammenhang gesehen werden und dann natürlich auch im Vergleich zu den russischen Fähigkeiten und der Verfügbarkeit der russischen Kampfpanzer, und mehr.
Und hier haben wir gesehen, dass die russische Produktionsfähigkeit viel schneller auf Kriegsproduktion umgeschaltet hat und dass die westlichen Sanktionen nicht gewirkt haben, um das einzuschränken. Im Gegenteil, die Russen produzieren seit einiger Zeit weitaus mehr als vor dem Krieg. Eines ist auch klar: Die Personalprobleme sind am Ende wahrscheinlich das entscheidende Argument. Nicht so sehr die Waffenlieferungen, die weiter anhalten, obwohl es auch hier politische und ökonomische Risiken für die Ukraine gibt.
Das Gespräch führte Matthias Kündig.