Auf den ersten Blick ist im westukrainischen Lwiw alles wie immer. Die Strassencafés sind gut besetzt, Menschen flanieren, kaufen ein. Doch dann setzt die Kakophonie der Generatoren ein: Die Geräte vor den Restaurants, Läden, Hotels springen an. Es ist laut, es stinkt, und tagsüber, während der grossen Hitze, ist es schier unerträglich.
Lvivoblenergo ist das Unternehmen, das in der Region Lwiw den Fluss des verfügbaren Stroms steuert. Roman Ivantsiv, der technische Direktor, sagt: Russland habe Wärmekraftwerke, Wasserkraftwerke, aber auch Umspannwerke angegriffen. Deshalb stehe viel weniger Strom zur Verfügung. Zudem seien zurzeit die Reaktoren der Atomkraftwerke in Revision, als Vorbereitung für den Winter. Das vergrössere das Stromdefizit noch.
Suche nach Ersatz mit allen Mitteln
Man schätzt, dass die Ukraine zurzeit deutlich weniger als die Hälfte der Energie produziert als vor dem Krieg. So gross sind die Zerstörungen. Ausserdem hält Russland das grösste Atomkraftwerk – Saporischja – besetzt. Man versuche, alles zu reparieren, aber das brauche eben Zeit, sagt Ivantsiv. Je nachdem dauert dies Monate oder sogar Jahre.
Wir machen unsere Arbeit. Wie es im Winter sein wird, wissen wir nicht.
Doch bis zum Winter ist es nicht mehr weit. Manche Leute kaufen deshalb bereits Brennholz, andere decken sich mit Generatoren, Sonnenkollektoren, Batterien ein. Ivantsiv will keine Prognosen machen: «Wir machen unsere Arbeit. Wie es im Winter sein wird, wissen wir nicht.»
Mehr Importstrom
Aber natürlich lege sein Unternehmen einen Vorrat an Geräten für Notfälle an. Und manche Unternehmen versuchen sich mit erneuerbaren Energien und Mini-Gaskraftwerken zu helfen. Ausserdem wird mehr Strom importiert.
Das ganze moderne Leben hänge vom Strom ab, so Ivantsiv. Fehlt er, hat das gravierende Auswirkungen: auf den Alltag, die Sicherheit, die Produktion. Strom sei für viele selbstverständlich. Sie seien sich der Prozesse der Stromerzeugung gar nicht bewusst.
Jeder denkt, dass er zu wenig Strom erhält, dass die Nachbarn mehr bekommen, dass wir nicht fair sind.
Und so kommt es, dass sich in der Bevölkerung Unmut breit macht, obwohl das Stromunternehmen versucht, über die Abschaltungen so transparent wie möglich zu informieren. Auf ihrer Webseite kann man nachschauen, in welchem Quartier der Strom wann ausgeschaltet wird, wie Kommunikationschefin Galyna Petrushka sagt: «Jeder denkt, dass er zu wenig Strom erhält, dass die Nachbarn mehr bekommen, dass wir nicht fair sind.»
Erschwerend kommt dazu, dass kritische und militärische Infrastruktur, deren Standort geheim bleiben muss, von Stromabschaltungen verschont bleibt – das verstärkt das Unverständnis der Leute.
Russische Desinformation
Und so kommt es, dass sich die Wut mancher nicht gegen die Russen richtet, sondern gegen das Unternehmen, das den Strom abschaltet. Gleichzeitig kursieren Falschinformationen. So etwa, dass Strom nach Europa verkauft wird und gar kein Mangel herrscht.
Das sei nicht wahr, doch der Kampf gegen die russische Propaganda sei schwierig, sagt Galyna Petrushka. Die Menschen seien nach zweieinhalb Jahren Krieg müde und manche empfänglich für vereinfachende Falschinformationen. Genau das will Russland mit der Zerstörung der Infrastruktur erreichen: Die Menschen aufwiegeln und in einen Zustand der Hoffnungslosigkeit versetzen.