Die 75-jährige Oleksandra Stepanova hat geduldig auf dem Trottoir an der Sonne gewartet. Nun ist sie an der Reihe. Sie nimmt eine der beiden grossen Plastikflaschen, die sie mit ihrem Einkaufswägelchen mitgebracht hat, und öffnet den Wasserhahn. «Ich habe nur zwei Flaschen dabei, in meinem Alter schaffe ich es nicht, noch mehr zu tragen. Aber wenn der Lift in meinem Haus funktioniert, ist alles in Ordnung. Und das Wässerchen ist sehr gut.»
Etwas einfacher hat es Serhii. Der ältere Herr ist mit dem Auto vorgefahren und hat gleich 20 Liter abgefüllt. Er erinnert sich gut daran, wie im April 2022 plötzlich die ganze Stadt mit einer halben Million Einwohnerinnen und Einwohnern auf dem Trockenen sass.
Kein Tropfen mehr kam aus der Leitung, das wertvolle Nass musste mit Lastwagen nach Mykolajiw gebracht werden: «Das war hart, aber jetzt ist es viel leichter, denn sie haben Brunnen gebohrt und man kann sogar auswählen, wo man Wasser holen will.»
Wasser aus der Wundermaschine
Die beiden stehen vor einer baptistischen Kirche in einer Plattenbausiedlung im Norden der Stadt. Hier ist eine der zahlreichen kostenlosen Wasserausgabestellen. Betrieben wird sie von Pastor Viktor Zolin. Der 49-Jährige erzählt, wie eine evangelische Missionsgesellschaft im Mai 2022 dem Quartier zu Hilfe eilte: Sie gruben in sechs Metern Tiefe nach Wasser und installierten einen Apparat, der das sonst nicht trinkbare Wasser reinigt.
Zolin führt uns in den Keller, vorbei an beschädigten Fenstern. Von russischen Streubomben, sagt der Pastor. Weil es immer wieder Angriffe gebe, ersetzten sie die Fensterscheiben vorerst nicht.
Dort, im überfüllten Keller, steht sie, die Wundermaschine. Sie verwandelt mittels Umkehrosmose verunreinigtes in sauberes Trinkwasser. Das Wasser wird unter Druck durch eine halbdurchlässige Membran gepresst. So werden selbst kleine Verunreinigungen entfernt und im Schmutzwasser abgeführt. Das gereinigte Wasser landet in einem Tank. Mindestens 10'000 Liter Trinkwasser produziert die baptistische Kirchgemeinde pro Tag.
Und wenn der Strom ausfällt, wie so oft in diesen Tagen? Zolin sagt, sie hätten Generatoren. Die seien aber teuer und nicht besonders leistungsfähig. Das Wasser müsse dann rationiert werden.
Gesprengte Pumpstation
Boris Dudenko ist Generaldirektor der Wasserversorgung der Stadt. Er erzählt, wie am 12. April 2022 alle Leitungen plötzlich trocken waren: «Wir entnahmen das Wasser aus dem Fluss Dnipro, 73 Kilometer von der Stadt entfernt. Dort wurde gekämpft, und wir hofften damals, dass das Versiegen des Wassers eine zufällige Folge der Kämpfe war.»
Doch dem war nicht so: Die russischen Truppen hatten die Pumpstation am Fluss mutwillig gesprengt. Den endgültigen Beweis dafür fanden Dudenkos Leute, nachdem die ukrainischen Streitkräfte die Gegner im November 2022 bis über den Dnipro zurückgedrängt hatten und sie den Schaden erstmals begutachten konnten.
Salzwasser: Segen und Fluch
Doch Dudenko war schon vorher klar, dass er handeln musste. Er entschied, Wasser aus dem Fluss Südlicher Bug in die Stadt zu leiten. Dieser mündet bei Mykolajiw ins Schwarze Meer. «Leider ist dieses Wasser salzhaltig. Aber wir hatten keine Wahl, es ging in Richtung Sommer, und im Sommer wird es hier sehr heiss. Es hätten Krankheiten ausbrechen können.»
Dudenko sagt, das Salzwasser sei Rettung und Untergang zugleich gewesen. Rettung, weil wieder Wasser für die persönliche Hygiene, für die Reinigung, fürs Waschen zur Verfügung stand. Für Privatpersonen, Spitäler, Unternehmen. Aber: es macht die Rohre kaputt, die Boiler in den Häusern, die Wasserhähne – alles rostet.
Sie müssten dauernd Leitungen notfallmässig reparieren. «Das Schlimmste ist, dass wir nicht wissen, was schlussendlich die Folgen sein werden. Es hat weltweit noch nie jemand salzhaltiges Wasser in einem zentralen System der Wasserversorgung verwendet.»
Wasserentzug als Waffe
Eine Stadt ohne Wasser sei dem Untergang geweiht, sagt Dudenko: «Als der Feind die Stadt nicht einnehmen konnte, begann er, die Stadt zu zerstören. Indem er ihr das Wasser wegnahm, hat er eine neue Art Waffe gefunden.»
Und so lebt Mykolajiw seit über zwei Jahren mit dieser prekären Situation. Alle Versuche, die Anlage zu flicken, scheiterten, weil die Russen dies mit Dauerbeschuss vereitelten. Erst wenn die Russen auch vom linken Ufer des Dnipro vertrieben würden, könnten sie das Problem lösen, sagt Dudenko. Dann bräuchten er und seine Leute nur ein paar Monate, bis wieder sauberes Wasser in die Stadt fliesse.
Mykolajiw unter Dauerbeschuss
Wie schlimm der Krieg in Mykolajiw gewütet hat, zeigt sich im Zentrum der Stadt. Dort bietet sich ein apokalyptisches Bild: in einem Hochhaus klafft ein gigantisches Loch. Es erstreckt sich über alle zehn Stockwerke. Hier, in der Regionalverwaltung von Mykolajiw, wurde am Morgen des 29. März 2022 gearbeitet, als eine Rakete einschlug und 37 Menschen tötete. Das versehrte Gebäude erinnert an die schlimmen ersten Kriegswochen.
Damals hatten die angreifenden Russen damit gerechnet, in Richtung Odessa durchmarschieren zu können. Doch die ukrainische Armee stoppte sie kurz vor Mykolajiw. Deshalb versuchten die Angreifer, die Stadt mit Dauerbeschuss in die Knie zu zwingen. Rund die Hälfte der einst 500’000 Einwohner und Einwohnerinnen verliessen die Stadt.
«Seit die Russen bis über den Dnipro gedrängt wurden, ist es in der Stadt viel ruhiger», sagt Vitalii Lukov. Der stellvertretende Bürgermeister trägt Jeans, ein feldgrünes T-Shirt und wirkt müde.
Manche der Geflüchteten sind zurückgekehrt, andere sind aus den von Russland besetzten Gebieten zugezogen.
Eine falsche Normalität
Mykolajiw wirke nun friedlich, Kinder spielten draussen, am Abend seien wieder viele Leute auf den Strassen, sagt Lukov. Das sei einerseits gut: Aber es mache ihm auch Sorgen. Denn Mykolajiw werde immer noch angegriffen, zwar seltener, aber dafür gezielter. Doch die Leute seien sorglos geworden.
Ausserdem sei es schwierig, sich zu schützen. Der Luftalarm ertöne praktisch gleichzeitig mit dem Einschlag der russischen Raketen. Diese können nicht abgewehrt werden, denn die wenigen verfügbaren Luftverteidigungssysteme werden zum Schutz der Hauptstadt und wichtiger Infrastruktur eingesetzt.
Genau deshalb haben die Schulen in Mykolajiw nach wie vor Online-Unterricht – alles andere wäre zu gefährlich, so Lukov. Für die Kinder ist das eine Katastrophe. Inzwischen haben fast die Hälfte der Schulkinder die Stadt verlassen, in der Regel zusammen mit ihren Müttern und Grossmüttern.
Auch die meisten Firmen sind weg. Lukov sagt: «Nur etwa zehn Prozent der Unternehmen sind noch da.» Alle grossen hätten entweder dichtgemacht oder ihre Geschäfte in den Westen der Ukraine verlegt. Nur kleine Firmen seien geblieben, aus der Dienstleistungsbranche, der Lebensmittelproduktion und der kritischen Infrastruktur.
Und diejenigen Firmen, die weiter produzieren – wie etwa die Fabrik, die aus den wunderbaren Tomaten der Region Konzentrat herstellt – die müssen damit rechnen, bombardiert zu werden. Was bereits geschehen ist. Hinzu kommt die prekäre Wasserversorgung.
Leben im unsicheren Provisorium
Der stellvertretende Bürgermeister spricht deshalb von der Illusion einer lebendigen Stadt. Und genau deshalb möchte er nicht, dass die Geflüchteten bereits zurückkehren: Denn alle, die nicht aktiv seien und nicht arbeiten könnten, seien eher eine Belastung: Rentner oder Kinder etwa. Man kämpfe nach wie vor ums Überleben. Deshalb wäre er froh, wenn diese Menschen weiterhin an ihrem sicheren Ort bleiben würden.
Ein Leben in Ruhe und Sicherheit, mit Arbeitsplätzen und sauberem Leitungswasser – all das wird die Bevölkerung in Mykolajiw wohl erst wieder haben, wenn Russland sich ganz aus der Ukraine zurückzieht oder keine Bedrohung mehr ist. Vorerst aber müssen die Menschen weiterhin im Provisorium leben, sich anpassen und kreative Lösungen für immer wieder neue Probleme finden.