Nach dem russischen Raketenangriff auf ein Kinderspital in Kiew ist das Entsetzen in der Ukraine gross. Mehr als 30 Menschen – viele davon Kinder – sind gestern ums Leben gekommen. Denis Trubetskoy erzählt, wie es vor Ort ist.
SRF News: Wie haben Sie den Angriff auf Kiew am Montag erlebt?
Denis Trubetskoy: Es war ein trauriger, dramatischer Tag, bei dem einiges apokalyptisch aussah. Die grösseren Raketenangriffe der Russen finden sonst eher in der Nacht statt, und tatsächlich gab es in der Nacht zuvor landesweiten Luftalarm. Man denkt am frühen Morgen, dass es vorbei ist. Aber dann knallte es plötzlich um 10 Uhr. Mehr oder weniger in der ganzen Stadt sind Raketen gefallen. Es war ein extrem unangenehmer Morgen, auch abgesehen von dieser traurigen Situation mit der Kinderklinik.
Der Angriff hat gezeigt, dass all die innenpolitischen Konflikte eine relativ kleine Rolle spielen, wenn der Gegner Russland ist.
Wie ist die Stimmung in Kiew nun?
Heute Dienstag ist hier ein Trauertag. Das Entsetzen war gross, aber gleichzeitig eint es die Bevölkerung auch. Man hat gestern gesehen, wie Menschen Blut gespendet haben, wie sie Wasser, Lebensmittel und Arzneimittel gebracht haben. Viele kleine und grosse Unternehmen spenden für diese Kinderklinik, die landesweit bekannt ist. Man darf die Situation, in der sich die Ukraine befindet, nicht unterschätzen, aber man sollte sie nicht als katastrophal bezeichnen. Es ist schwierig, wenn Russland seit Oktober die Initiative an der Front behält. Der Angriff hat gezeigt, dass all die innenpolitischen Konflikte eine relativ kleine Rolle spielen, wenn der Gegner Russland ist.
Kiew war gefühlt sicherer als andere Städte. Ändert sich das jetzt?
Generell kann man sagen, dass die Lage in den Städten, die entweder an der russischen Grenze liegen oder die faktisch an der Frontlinie sind, noch dramatischer ist. Trotzdem ist es auch in Kiew so, dass man nicht weiss, was morgen oder in einer Stunde ist. Es ist ein sehr trauriges Lottospiel. Kiew ist als Hauptstadt des Landes mit Flughafen relativ gut geschützt, weil es sich um ein extrem lukratives Ziel für Russland handelt. Es gibt ständig Angriffe. Selbst wenn sie abgewehrt werden, landen die Trümmer irgendwo, und Menschen werden verletzt oder sterben. Und wenn Russland einen Angriff auf das Zentrum einer 3-Millionen-Stadt montags um zehn Uhr startet, dann ist es quasi gesetzt, dass viele Menschen sterben.
Kiew hat ein Luftabwehrsystem. Es gibt immer wieder Angriffe. Normalerweise funktioniert die Luftabwehr. Wird heute darüber gesprochen, was gestern passiert ist?
Man sollte die Situation in Kiew nicht analysieren wie ein Fussballspiel. Es ist extrem kompliziert. Es liegt in der Natur des Krieges, dass die Abwehr von Luftangriffen wie auch deren Durchführung im Prinzip ein Katz-und-Maus-Spiel sind.
Das vom Sofa aus zu analysieren, ohne dass man alle Faktoren kennt, das geht gar nicht.
Beide Seiten lernen kontinuierlich dazu. Man hat gesehen, dass russische Marschflugkörper komplizierte Routen fliegen, auch über die Westukraine, um dann Kiew zu treffen. Die Russen versuchen auch, die Luftabwehr zu überlasten. In der Ukraine wartet man auf die F16, die US-amerikanischen Kampfflugzeuge. Die Flugplätze, wo sie stationiert werden, müssen geschützt sein. Gerade die hochkarätigen Systeme – so auch das Flugabwehrsystem Patriot – hat man nur in einer kleinen Stückzahl. Man muss in einem so grossen Land wie der Ukraine immer kalkulieren, wo man das System braucht. Das vom Sofa aus zu analysieren, ohne dass man alle Faktoren kennt, das geht gar nicht.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.