Seit bald 21 Monaten führt Russland Krieg gegen die Ukraine. In der ukrainischen Hauptstadt Kiew hat sich das Leben inzwischen weitgehend normalisiert – mindestens an der Oberfläche. Im Hintergrund jedoch ist der Krieg stets präsent.
Gelöste Stimmung in der «Betrunkenen Kirsche»
Kiew wirkt in diesen Tagen sehr lebendig. Es ist viel Verkehr auf den Strassen, die Restaurants und Läden sind gut besucht. Das Personal will seine Gäste von der traurigen Realität des Krieges ablenken. «Wir sorgen für gute Stimmung, plaudern mit den Gästen», sagt Ilja, Barkeeper in der «Betrunkenen Kirsche», einer Bar im Stadtzentrum. «Wenn zum Beispiel Frauen um die 35 reinkommen, fragen wir, ob wir ihren Ausweis sehen können, ob sie überhaupt schon Alkohol kaufen dürfen. Das freut sie dann immer.»
Für ein paar Momente lang den Krieg vergessen: Auch dafür ist die Bar da.
«Die ‹Betrunkene Kirsche› ist der perfekte Ort, um auf die Befreiung unserer Heimat zu warten. Unsere Männer sind beim Katastrophenschutz. Sie beseitigen die Folgen des Krieges, räumen Trümmer weg, löschen Brände und entfernen Minen», erklärt eine Frau, die mit zwei Freundinnen da ist. Sie alle stammen aus dem besetzten Gebiet Luhansk.
Die Zeiten sind hart. Die Männer im Einsatz in Frontnähe, die Frauen als Binnenflüchtlinge vorübergehend in Kiew untergekommen. Aber die «Betrunkene Kirsche», sagen die drei, sorge für gute Stimmung.
In den Buchladen gehen zum Vergessen
Die Geschäfte laufen teilweise so gut in Kiew, dass sogar in die Zukunft investiert werden kann. «Unser Buchladen ist erst etwa eine Woche offen. Bei der Eröffnung gab es einen richtigen Ansturm», sagt Katerina Demidenko. Die junge Frau leitet das Geschäft unweit des zentralen Maidan-Platzes.
Jeder Ukrainer vergisst mal für ein paar Minuten, dass Krieg ist. Aber eigentlich ist der Krieg immer präsent.
Die Buchhändlerin liest fürs Leben gern: Ihr Lieblingsbuch ist ein Roman der ukrainischen Schriftstellerin Evgenia Kusnezova. Die Handlung spielt in einem ukrainischen Dorf. Es ist die Geschichte einer Familie, eines Hauses. Ukrainischer Alltag beschrieben zwischen zwei Buchdeckeln. «Pure Nostalgie» löse das Buch bei ihr aus, schwärmt Demidenko.
Gross ausgestellt im Laden ist auch «Moscoviada» von Juri Andruchowitsch: einer der bekanntesten Romane der Ukraine. Das Buch, vor 30 Jahren erschienen, handelt vom Untergang der Sowjetunion – und von der ukrainischen Sehnsucht nach Unabhängigkeit. Das Thema ist heute wieder schmerzhaft aktuell.
Seit 21 Monaten führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Und doch geht das Leben weiter, in Bars wird getrunken, es werden neue Läden eröffnet. Wie bringt man das zusammen im eigenen Kopf?
«Jeder Ukrainer vergisst mal für ein paar Minuten, dass Krieg ist. Aber eigentlich ist der Krieg immer präsent. Ich habe Freunde, die kämpfen, ich habe Freunde, die gefallen sind. Sie zu vergessen, geht nicht. Denn sie stehen schliesslich in den Schützengräben, damit wir hier unseren schönen Buchladen betreiben können», sagt Katerina Demidenko.
Und dann fügt sie hinzu: «Ohne sie würden russische Panzer durch die Strassen von Kiew fahren.»
Der kritische Blick des Soldaten auf die Gesellschaft
Der Krieg ist in Kiew seltsam fern und nah zugleich. Wer will, kann fast so leben, als gäbe es keinen Krieg.
Einer, der mit Sorge auf diese Entwicklung schaut, ist Evgen Schibalow. Der Journalist hat an der Front gekämpft, war in russischer Kriegsgefangenschaft und dient nun weiter in der Armee. «Viele Ukrainer glauben, der Sieg sei schon nah – und sie müssten nicht kämpfen gehen. Die Soldaten würden das schon alleine schaffen.»
Der Krieg ist hart, er wird lange dauern, jeder wird früher oder später kämpfen müssen.
Aber so sei es nicht, sagt Schibalow. Die Kämpfe sind hart, die Russen greifen unter hohen Verlusten immer wieder an. Aber auch die Ukrainer erleiden Verluste. Viele Soldaten erzählen, die ukrainischen Stellungen seien massiv unterbesetzt.
«Sogar ehemalige Kriegsgefangene wie ich werden nicht aus der Armee entlassen. Das zeigt, wie katastrophal der Mangel an Soldaten ist», so Schibalow.
Er habe deswegen einen Artikel geschrieben, in dem er sich an seine Landsleute wendet. Darin steht: «Ihr macht Euch umsonst Hoffnungen, dass alles an Euch vorbeigeht. Der Krieg ist hart, er wird lange dauern, jeder wird früher oder später kämpfen müssen.»
Die Regierung von Präsident Selenski scheut sich offenbar im Moment, die Mobilisierung zu verstärken – und junge Männer in Massen zum Kriegsdienst zu zwingen. Die Menschen sollen mindestens in Städten wie Kiew ein bisschen Alltag leben dürfen – trotz Krieg.
Es ist eine trügerische Normalität. Denn der Krieg kann jederzeit zurückkehren, auch in die Hauptstadt. In letzter Zeit hat Russland immer wieder Raketen und Drohnen auf Kiew abgefeuert.