Unter dem Druck vieler Misserfolge seiner «Spezialoperation» kündigte Russlands Präsident Putin am Mittwoch eine Teil-Mobilmachung russischer Streitkräfte an. Der Westen reagierte mit scharfer Kritik. Doch was sagt die Bevölkerung Russlands?
Gleichgültige bis ängstliche Reaktionen
«Ich bin noch jung. Natürlich sagt mein Ehrgeiz, wir müssen vorwärts im Krieg», sagt ein junger Moskauer Bürger. «Aber mein Verstand sagt mir, ich kann dort sterben und ich habe eine Familie, Verwandtschaft und Freunde. Das ist eine schwierige Frage.»
Ein anderer, älterer Herr reagiert zurückhaltend: «Der Präsident erklärt diese Teil-Mobilmachung anhand der Situation, in der er meint, er muss diese Entscheidung treffen. Wir sind ja in so einer Situation, wo wir keine Kommentare geben dürfen, zu dem, was er gesagt hat. Der Präsident hat das gesagt, dann soll es so sein.»
Wir sterben sowieso alle früher oder später.
Relativ gleichgültig reagiert ein weiterer, junger Mann aus Moskau. «Mir ist es egal, ich bin ein einfacher Mensch. Wenn mir das befohlen wird, dann gehe ich. Wir sterben sowieso alle, jemand früher, jemand später. Es gibt keinen Unterschied.»
Tausende Familien in Russland betroffen
Auch Christoph Wanner, Korrespondent in Moskau, spricht von unterschiedlichen Reaktionen der Menschen in Moskau. Es gebe Experten, die sich regelrecht darüber freuen, dass endlich etwas geschieht. Darunter sei auch ein ehemaliger Separatistenführer aus Donezk, der sich positiv geäussert hat.
«Doch ich habe den Eindruck, dass die meisten Menschen in Moskau, wie überall in Russland, ein eher mulmiges Gefühl haben», sagt Wanner. Denn die Teil-Mobilmachung betreffe nun Tausende Familien, deren Kinder und Ehemänner potenziell eingezogen werden könnten – und die sich überhaupt nicht darum reissen, in diesen Krieg zu ziehen. «Ich denke, das ist für viele Menschen der blanke Horror, was da gerade passiert.»
Viele glaubten nicht an Teil-Mobilmachung
Christina Hebel, Spiegel-Reporterin in Moskau, bestätigt die angespannte Stimmung in Russland. Viele hätten nicht geglaubt, dass es zu dieser Teil-Mobilmachung kommt – zumal Putin und der Kreml mehrmals gesagt hatten, dass es sie nicht geben wird. Zudem seien die Dokumente für das Ansetzen dieser Mobilmachung sehr vage gehalten in den Formulierungen, wen es betrifft. «Darin liegt der Punkt, der vielen Menschen Angst macht», erklärt Hebel.
Die Menschen müssen sich in Sicherheit bringen, wenn sie nicht in diesen Krieg hereingezogen werden wollen.
Das Entsetzen über die Teil-Mobilmachung in den sozialen Medien sei riesig, so Hebel weiter. Dort, wo unter anderem die Opposition sehr präsent ist, sei die Rede von einem «Krieg gegen das eigene Volk», wie es die kremlkritische «Nowaja Gaseta» bezeichnet.
Denn Putin habe bisher so getan, als ob der Krieg grosse Teile der Bevölkerung – abgesehen von den Soldaten im Einsatz – nicht betreffe. «Dieses Versprechen hat Putin mit dem heutigen Tag gebrochen», sagt Hebel. Nun werde der Krieg viele Menschen und Familien in Russland betreffen.
Zudem kursierten bereits am Mittwoch Videos in den sozialen Medien, die Autokolonnen an der russisch-finnischen Grenze zeigen sollen – Hebel schätzt, dass es Tausende Russinnen und Russen sein könnten. «Bisher wollen besonders Menschen, die dem Regime kritisch gegenüber stehen, aus dem Land fliehen.» Sie spricht von einer zweiten Auswanderungswelle: «Die Menschen müssen sich in Sicherheit bringen, wenn sie nicht in diesen Krieg hereingezogen werden wollen.»