Nach dem blutigen Anschlag am Dienstag in Kabul, bei dem mindestens 55 Menschen starben, haben sich die afghanischen Taliban ausdrücklich von der Tat distanziert. Was die Gotteskrieger damit bezwecken, weiss SRF-Südasienkorrespondent Thomas Gutersohn.
SRF News: Wieso machen die Taliban derart deutlich, dass sie nichts mit dem Anschlag zu tun haben?
Thomas Gutersohn: Es geht um Imagepflege. Die Taliban wollen in Afghanistan zurück an die Macht. Dabei wissen sie, dass das nicht gegen den Willen der Bevölkerung geht. Ein Anschlag mit vielen zivilen Toten, und das an einem islamischen Feiertag, brächte die Afghanen gegen die Taliban auf.
Die Taliban beherrschen so viel Land wie nie seit dem Einmarsch der westlichen Truppen.
Dass sie sich von dem Anschlag distanzieren, heisst im Übrigen nicht, dass sie ihn nicht doch verübt haben, denn bislang gibt es noch kein Bekenntnis einer anderen Terrororganisation. Allerdings haben die Taliban in der Tat in letzter Zeit weniger zivile und mehr militärische Ziele angegriffen. Diese Strategie scheint sich für sie auszuzahlen: Noch nie seit dem Einmarsch der westlichen Truppen 2001 als Folge der Anschläge von 9/11 beherrschten die Taliban derart grosse Gebiete Afghanistans wie heute.
Sind die Taliban trotz dieses Dementis als Terroristen einzustufen?
Auf jeden Fall. Sie sind immer noch der stärkste terroristische Akteur in Afghanistan. Die Taliban sind am besten vernetzt und haben die grössten Ressourcen. Der «Islamische Staat» kommt bei weitem nicht an sie heran. Trotzdem versuchen die Taliban, sich als die «guten Terroristen» darzustellen; als jene, die nicht die Zivilisten angreifen. So haben sie vor ihrer letzten Frühjahrsoffensive die Afghanen in den betroffenen Gebieten vorgewarnt und sie gebeten, zuhause zu bleiben. Auch haben sie den USA angeboten, gemeinsam gegen die IS-Terroristen vorzugehen. Doch das ist alles Propaganda, die nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass die Taliban so stark sind wie nie seit 17 Jahren.
Der IS kommt bei weitem nicht an die Taliban heran.
Welche politischen Ziele verfolgen die Taliban mit ihrer Propaganda- und Kampfstrategie?
Sie versuchen, sich als parastaatliche Akteure zu präsentieren, die für eine Aushandlung eines Friedens unverzichtbar sind. In der Tat werden die Taliban inzwischen auch an Friedenskonferenzen ins Ausland eingeladen. So sassen sie kürzlich etwa in Moskau zwischen Diplomaten und Aussenministern – ganz so, als würden sie an Stelle der Regierung die Interessen Afghanistans vertreten. Auch gibt es inoffizielle Gespräche mit den USA, die in Katar stattfinden. Die Taliban verfolgen eine Doppelstrategie: So erobern sie immer mehr Land in Afghanistan, was Druck auf den Westen aufbaut. Mit den daraus resultierenden Verhandlungen stärken sie ihre Stellung im Land und untergraben damit die afghanische Regierung.
Können die Taliban ihren Rückhalt in der Bevölkerung tatsächlich ausbauen, indem sie sich von Terroranschlägen distanzieren?
Das ist schwer zu sagen. Trotz lebensgefährlicher Umstände haben im Oktober mehr als drei Millionen Afghanen an den Wahlen teilgenommen. Diese Menschen werden die Gotteskrieger wohl nie auf ihre Seite bringen. Allerdings: Die Afghanen wollen endlich Frieden. Doch diesen scheint die Regierung nicht liefern zu können. Deshalb ist vielen Afghanen – vor allem auf dem Land – inzwischen egal, wer regiert. Hauptsache, sie können in Frieden leben. Insofern erhalten die Taliban von diesen Teilen der Bevölkerung wohl etwas Rückhalt. So siedeln sich auch Rückkehrer aus Iran oder Pakistan nicht nur in den von der Regierung kontrollierten Gebieten an, sondern auch in solchen, die unter Kontrolle der Taliban stehen. Diese Leute scheinen den Taliban mehr zu vertrauen als der afghanischen Regierung.
Das Gespräch führte Susanne Stöckl.