Rocío Cruces ruft ihre Ziegen. In der Hand hält sie einen Eimer mit Futterpellets. Die kleinen weisshaarigen Geissen folgen Rocío mit hungrigen Augen bis in einen Transportwagen hinein. Über hundert Ziegen hält Rocío zusammen mit ihrem Partner Víctor. Zwanzig davon trampeln nun in dem Anhänger herum – allzeit fressbereit für den nächsten Einsatz.
«Wir lassen die Ziegen strategisch grasen. Sie grasen bestimmte Zonen ab, die wir mit einem Elektrozaun begrenzen – so fressen die Ziegen Feuerschneisen in den Wald», erklärt Rocío. Im Notfall helfen dann die Schneisen der Feuerwehr und tragen dazu bei, dass sich Waldbrände nicht weiter ausbreiten. Die Überlegung dahinter ist eigentlich naheliegend: «Für einen Waldbrand braucht es Wind, hohe Temperaturen, trockene Böden und Pflanzen. Das ist Nährstoff für das Feuer. Wenn wir etwas davon kontrollieren können – etwa die trockenen Pflanzen eindämmen –, dann hilft das gegen Feuer», so die Landwirtin.
Monokultur-Wälder als gefährliche Brandbeschleuniger
Wir befinden uns in der Region Biobío im Süden Chiles – in Santa Juana, einer abgelegenen ländlichen Gemeinde. Rund 13'000 Menschen wohnen hier, vor allem Bauern. Ihre Grundstücke sind oft mehrere Hektaren gross. Dazwischen kilometerweise Wald, meist Monokulturen. Die Forstwirtschaft hat in Biobío grosse Plantagen angepflanzt. Es sind Eukalyptus-Bäume und Kiefern. Deren Holz und die Zellulose werden gebraucht für die Papierindustrie. Auch viele Bauern pflanzen Monokultur-Wälder auf ihrem Grundstück, um sie dann an die Holzindustrie weiterzuverkaufen.
Doch jetzt zeigt der Blick aus dem Autofenster nur schwarz-verkohlte Baumstämme, so weit das Auge reicht. Vor bald sechs Monaten erlebte Chile die schwersten Waldbrände in der Geschichte des Landes. 26 Menschen starben damals in den Flammen. Mehr als 6000 wurden verletzt. Über 450'000 Hektaren Land brannten ab. Vor allem hier, in der Region Biobío.
Die Wurzeln der chilenischen Feuerwehr-Ziegen liegen in der Schweiz
Ankunft im Wald auf dem Nachbargrundstück. Jetzt geht es für die Ziegen an die Arbeit: Genauer, ans Fressen. Wildes Rupfen, lautes Schmatzen und genüssliches Kauen: So klingt es, wenn eine Horde Ziegen sich über Büsche und Gestrüpp hermacht wie über ein Salatbuffet. Ziegen haben wie Kühe vier Mägen und können so ziemlich alles verdauen, auch Dornen oder Unkraut.
Ihre Wurzeln haben die chilenischen Feuerwehr-Ziegen in der Schweiz. «Unsere Tiere sind eine Kreuzung der Saanenziege aus der Schweiz mit der chilenischen Cachemil-Rasse und der alpinen Ziege», sagt Rocío. Die kleinen Ziegenarten aus der Schweiz seien ideal, weil sie die Baumrinde nicht zu hoch abfressen – so nehmen die Bäume wenig Schaden, denn Baumrinde mögen die Vierbeiner auch. Die Kreuzung mit chilenischen Ziegenarten sorge für ein dickeres Fell, damit die Tiere den Winter in Chiles tiefem patagonischen Süden besser überstehen. Denn dann, im Winter, beginnt die Waldbrand-Prävention für den nächsten Sommer.
«Ziegen gehören zu den ältesten domestizierten Tierarten. Es gab sie schon im alten Mesopotamien. Und Ziegen passen sich an ziemlich alle klimatischen Bedingungen an, deshalb können sie überall solche Feuerschneisen machen», ist Rocío überzeugt. Beweise dafür gibt es genug: Auch in Spanien, Portugal, Kanada oder Australien setzen Bauern auf Ziegen für die Waldbrand-Prävention. Das strategische Grasen ist eine umweltfreundlichere Alternative zu giftigen Herbiziden, die mancherorts gebraucht werden, um leicht entzündliches Gestrüpp loszuwerden.
«Buena cabra», gute Ziege, nennt sich das von der Lokalregierung mitfinanzierte Projekt von Rocío und ihrem Mann Víctor. Denn in Ziegen das Gute zu sehen sei nicht selbstverständlich in dem südamerikanischen Land. «Hier in Chile haben viele Vorurteile gegenüber Ziegen. Sie sagen, die zerstören doch alles, fressen alles weg. Ja. Aber diese zerstörerische Kraft können wir mit einem Elektrozaun lenken – und sinnvoll nutzen», so die 42-Jährige. Sie bietet mit ihren Ziegen nun einen Abgras-Service an.
Die Ziegen als Hilfe zur Selbsthilfe für abgelegene ländliche Gemeinden
Nachbarin Rosa Zanzana Neira musste machtlos zusehen, als das Feuer kam und ihr Haus abbrannte. Die Plastiktonnen, mit Regenwasser drin zum Löschen, schmolzen innert Sekunden. «30 Jahre lang hatten wir uns hier ein Leben aufgebaut – und dann brannte alles bis auf die Grundfesten ab, innert einer Stunde. Aber immerhin haben wir überlebt. Das ist das Wichtigste», sagt die Bäuerin. Sechs von Rosas Nachbarn starben in den Flammen. «Erst zehn Tage später kam das Militär. Hier musste sich jeder selber helfen», sagt Rosa, und winkt enttäuscht ab.
Denn bei mehreren hundert Waldbränden gleichzeitig konzentrierten sich die chilenischen Feuerwehrbrigaden am stärksten auf städtische Gebiete, wo die meisten Menschen leben. Abgelegene Orte wie Santa Juana blieben sich selbst überlassen. Über 2'000 Chileninnen und Chilenen wurden damals auf einen Schlag obdachlos. Obwohl der links-progressive Präsident Gabriel Boric allen Betroffenen eine kleine Notunterkunft versprach – bis diese Bungalow-Häuschen standen, dauerte es Monate.
Rocío und ihr Mann Víctor brauchten keine Notunterkunft: Ihr Bauernhof brannte nicht ab, als einer von ganz wenigen in der Region. Wohl, weil dort über 100 Ziegen regelmässig grasen.