Suleyman hüpft und juchzt und lacht. Der siebenjährige Junge hat mit seinen Freunden die Fremden umringt, die da angehalten haben und ihnen beim Drachenfliegen zuschauen wollen. Geschickt zieht Suleyman an der Schnur. Schnelle, kurze, geschmeidige Bewegungen. «Man kann es, oder man kann es nicht...» Naseweis lachen die Buben uns an. «Ein guter Drachenflieger hat seinen Drachen immer unter Kontrolle. Und er muss ihn in der Luft ganz hoch fliegen lassen können.»
Während der Herrschaft der Taliban war das Drachenfliegen verboten – jetzt ist jeder hier ein kleiner «Drachenläufer». Drachen fliegen zu lassen ist in Afghanistan mehr als nur Spass. Es ist ein Sport. Im Wettkampf versuchen die Drachenflieger, mit dem eigenen Drachen die Schnur des Gegners zu durchtrennen und dessen Drachen zum Absturz zu bringen.
Traumberuf Pilot: «Menschen in andere Länder bringen!»
Der ganze Himmel ist voller bunter Fluggeräte, als wir an diesem kühlen Wintertag auf dem kleinen Hügel mitten in Kabul anhalten, um mit den Kindern zu plaudern. «Ich will einmal Ärztin werden», erzählt ein Mädchen, das sich als einzige getraut, zu der Jungenbande zu stossen. «Und ich will Pilot werden!», ruft Hussein dazwischen. «Weshalb?» «Weil ich die Menschen in andere Länder bringen will!» «Ich will Ingenieur werden!» Natürlich kann auch der vorlaute Suleyman nicht zurückhalten. «Weil ich Häuser bauen will.»
Ärztin, Pilot, Ingenieur. Die Kinder von Kabul träumen dieselben Träume wie die Kinder auf der ganzen Welt. Nur, dass diese Kinder in Kabul leben...
«Terror, Terrorist, Terrorismus...»
Mohammed Zaman Karimi ist ein bekannter Buchhändler in Kabul. Wir bitten ihn, uns sein Lieblingsbuch zu zeigen. Er führt uns zu einem schönen, alten Persisch-Wörterbuch. Einem Wort-Schatz im wahrsten Sinn des Wortes. Einem Wortschatz aber auch, der auch dasjenige Wort aufführt, unter dem Kabul am meisten zu leiden hat: «Terror»!
«Wir haben uns an diese Situation gewöhnt. Auf der einen Seite der Stadt sprengt sich jemand in die Luft, und auf der anderen Seite der Stadt arbeiten die Leute ganz normal weiter. Wir sind gezwungen, weiterzuarbeiten.»
Wer in Kabul unterwegs ist, spürt die Angst vor dem Terror an jeder Ecke. Gleichzeitig versuchen die Menschen trotz aller Sicherheitsvorkehrungen, ihr Leben so normal wie möglich weiterzuleben. Wer genau hinter den Terror-Angriffen in Afghanistan steckt, ist oft nicht klar. Manchmal übernehmen die Taliban die Verantwortung, manchmal weisen sie sie zurück.
Der ideale Ort für eine extremistische Bewegung
Und immer häufiger ist in jüngster Zeit ein Name zu hören, den die Welt aus dem Irak und Syrien kennt: der «Islamische Staat». Dieser versucht ganz offensichtlich, in Afghanistan Fuss zu fassen.
Wir besuchen Harun Mir, einen unabhängigen Autoren und Analysten. Harun Mir war einst Weggefährte des afghanischen Widerstandskämpfers und Volkshelden Ahmad Schah Massoud, der 2001, am Vorabend von 9/11, von zwei als TV-Journalisten verkleideten Al-Kaida-Kämpfern ermordet wurde. «Der IS versucht, Leute von den Taliban abzuwerben. Aber sie rekrutieren auch Kämpfer aus den Madrasas, den Koranschulen in Afghanistan und Pakistan. Die Ideologie ist praktisch dieselbe wie diejenige der Taliban. Leider sind alle Ingredienzen vorhanden, dass sich der IS in Afghanistan schnell ausbreiten kann.»
Für Harun Mir ist Afghanistan der ideale Ort für eine extremistische Bewegung wie den IS. «Wir haben unzählige junge, arbeitslose Afghanen, die mit Gewalt aufwuchsen, die nichts anderes kennen als Gewalt. Wir wurden während der letzten drei, vier Jahrzehnte radikalisiert. Saudi Arabien und andere Golf-Staaten haben unendlich viel Geld investiert, um hier ihre Koranschulen aufzubauen. Wir haben jedes Jahr tausende von Koranschul-Abgängern, die allesamt radikale Ansichten haben. Und dann bietet Afghanistan mit seinem Drogenhandel und so weiter diesen radikalen Gruppen auch ein mögliches gutes Einkommen.»
Für Extremisten gibt es nichts Besseres als das Chaos
Der IS verfolgt in Afghanistan dieselbe Taktik, wie er sie schon in Irak und Syrien erfolgreich erprobt hat. Die Terroristen wissen ganz genau, dass ihre Saat am besten aufgeht, wenn Chaos herrscht. Deshalb versuchen sie ein Chaos zu kreieren, um sich dann als einzige Stabilität stiftende Organisation anzubieten und die Macht zu übernehmen.
So ist es kein Wunder, dass der IS im Irak geboren und in Syrien gross geworden ist. Und dass er nun, nach den militärischen Niederlagen in Mesopotamien, versucht, in Afghanistan Fuss zu fassen.
«Wir werden getötet, wo auch immer wir sind.»
Wir besuchen die Imam-Zaman-Moschee in Khair Khana, einem Stadtteil von Kabul. Es ist die grösste schiitische Moschee in der ganzen Stadt. Und der Ort eines der grausamsten Terroranschläge der letzten Monate. «Es war während der Gebetszeit. Wir hatten uns alle auf das Gebet vorbereitet, da hörten wir eine Explosion.» Haji Abdul Rasaq zittert heute noch, wenn er an den Moment an jenem 20. Oktober 2017 zurückdenkt.
Abdul Rasaq stellt sich an einen Pfeiler beim Eingang: «Nach vier Stunden hat sich einer genau hier in die Luft gesprengt! Ich war in der Moschee und habe es von drinnen gesehen. Nach vier Stunden hatte es die Armee geschafft, ins Gelände vorzudringen, da hat sich der eine hier in die Luft gesprengt. Ein anderer war immer noch in der Moschee.»
Immer mehr Männer umringen uns. Sie führen uns in den Gebetsraum. Die Erinnerungen stürzen wie Sturzbäche aus ihnen heraus: «Als sie reingekommen sind, waren sie zu zweit! Zwei bewaffnete Männer sind reingekommen und haben angefangen, in die Menge zu schiessen. Die Frauen beteten im oberen Stock. Also ist einer raufgegangen, hat dort um sich geschossen und ist dann wieder runtergekommen.»
Abdul Rasaq hatte sich mit einer Gruppe von Männern unter einer kleinen Treppe zu verstecken versucht. Nur durch Zufall hat er überlebt. «Als der eine Typ näher kam, hat er gesagt: ‹Ah, hier habt ihr euch versteckt!› Dann hat er begonnen zu schiessen. 30 Kugeln haben hier 7 Menschen getötet.» Abdul Rasaq imitiert die Bewegung eines Schnellfeuer-Gewehrs. «Vier Leute, die auf mir gelegen sind, sind gestorben.» Ihm kommen die Tränen. «Ich fühle mich extrem schlecht. In diesem Land gibt es keine Rechte, gibt es keine Regierung. Wir sind alle hier gestorben, wir werden getötet, wo auch immer wir sind.»
Die perfide Taktik des IS: Die Opfer sollen sich rächen
Genau das ist es, was die Attentäter erreichen wollen: Dass sich die Schiiten in Afghanistan unsicher fühlen. Dass sie Rache zu nehmen beginnen – und dass sich so ein konfessioneller Konflikt entwickelt. Es ist die bewährte Taktik des Islamischen Staates.
Noch wehren sich die Schiiten hier in Kabul dagegen, dass das passiert – selbst wenn diese Männer in der Imam-Zaman-Moschee das Schlimmste erlebt haben. «Wir Afghanen haben schon begriffen, dass die Krieg zwischen uns provozieren wollen. Und wir wissen, dass es nicht gut wäre für uns, wenn zwischen Sunniten und Schiiten Krieg ausbrechen würde.» Said Shahhinsha, der dies sagt, hat während dem Angriff seine Frau verloren. Wir staunen über seine Ruhe, wir staunen über die Ruhe aller Männer hier.
Abdul Rasaq und seine Freunde führen uns vor die Moschee. Dort liegen 22 der 42 Toten begraben. «Natürlich brennt sich die Angst ein. Ihr seht, heute haben wir fünf Wachleute hier. Wir haben permanent Angst, deshalb haben wir jetzt fünf eigene Wachleute, um uns zu schützen. Diese fünf Wachleute bedeuten, dass wir in Gefahr sind!»
Deshalb liegt das Gewehr immer in Griffweite, auch bei der Teerunde, zu der uns die Männer zum Abschluss einladen. Und wo die Diskussion grundsätzlich wird. «Solange das Bildungsniveau in Afghanistan nicht steigt, solange wir Afghanen nicht selber über den Frieden und den Wiederaufbau entscheiden, so lange wird niemand dieses Land aufbauen können.» Mohammad Walid lässt seinen achtjährigen Sohn Tee nachschenken. «Momentan ist das Problem, dass jeder hier mehr haben will, als ihm zusteht. Dabei ist keiner in Afghanistan in der Mehrheit. Keiner der 18 wichtigsten Stämme ist so stark, dass andere Stämme sich ihm unterwerfen müssten. Nicht die Paschtunen, nicht die Tadschiken, nicht die Hazara.»
Wir verlassen die Moschee, tief beeindruckt vom Mut dieser Männer – und gleichzeitig besorgt, weil es uns unvorstellbar scheint, dass sie diese Zurückhaltung auch nach dem nächsten schweren Anschlag aufrecht erhalten würden.
«Was seit 100 Jahren nicht gut wurde, wird es auch jetzt nicht»
Auf dem Hügel oberhalb der Kabuler Altstadt geht langsam die Sonne unter. Hier versuchen sich die Tagelöhner ein wenig abzulenken. Und hier wird allzu deutlich, was der Analyst Harun Mir gemeint hat. Die wirtschaftliche Not ist gross. Arbeit gibt es kaum. Sicherheit auch nicht.
Ahmad Sharif und Fasel Rustami spielen Carambole. Auf abgegriffenen Brettern schieben sie die Steine hin und her. «Das Leben wird durch den Krieg völlig durcheinander geschüttelt. Viele versuchen auszuwandern, um ihr eigenes Leben zu retten. An einem so bedrohten Ort wie diesem kann man nicht leben.» Rustami weiss ja nicht einmal, ob er an diesem oder jenem Tag einen Job findet, um wenigstens ein bisschen Geld zu verdienen.
Wie immer schart sich in kürzester Zeit ein ganzer Schwarm von Kindern um uns herum. Ahmad Sharif schaut sie traurig an: «Natürlich habe ich wie jeder Vater die Hoffnung, dass meine Kinder lernen, studieren, etwas erreichen, und von dem Elend, in dem wir sind, wegkommen. Aber leider gibt es nicht viele Möglichkeiten, vor allem für diese Kinder hier! Die meisten hier arbeiten schon, sie verkaufen Tee oder Süssigkeiten.»
40 Jahre Krieg haben die Afghanen hoffnungslos werden lassen: «Was seit 100 Jahren nicht gut wurde, wird auch jetzt nicht gut.» Vor allem, wenn nun auch noch der IS beginnt, sich in Afghanistan auszubreiten.