2020 hätte ein Sportsommer der Superlative werden sollen: 12 Tage nachdem im Londoner Wembley-Stadion der Fussball-Europameister gekürt worden wäre, wäre heute in Tokio die olympische Flamme entfacht worden. Das Füllhorn an Konjunktiven verrät: Die Corona-Pandemie hat die Vorfreude längst erloschen.
Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben: Im nächsten Jahr soll alles nachgeholt werden. Am fiktiven Eröffnungstag von Tokio 2020 keimen aber bereits neue Zweifel auf. «Es wird nicht die Begegnung der Welt, auf die ich mich gefreut habe. Es wird – Stand jetzt – wenn überhaupt nur mit vielen, vielen Sicherheitskonzepten und Einschränkungen gehen», so der deutsche Athletensprecher Max Hartung gegenüber der Bild-Zeitung.
Klar ist: Tokio 2021 wird ein Wettlauf mit der Zeit. «Nur noch ein Jahr, es liegt eine Mammutaufgabe vor uns», sagte Thomas Bach, Präsident des Internationalen Olympischen Komitees am Donnerstag. Der IOC-Chef hofft aber unverdrossen auf das «grosse Comeback-Festival des Sports auf der internationalen Bühne».
Die Organisatoren der Tokio-Spiele bleiben zuversichtlich, die Probleme in den Griff zu bekommen. OK-Chef Yoshiro Mori gab zwar zu, dass Spiele nicht möglich wären, wenn das Virus weiter wie gehabt grassiert: «Ich glaube aber nicht, dass diese Situation noch ein Jahr anhalten wird.» Und Mori lancierte bereits das neue Motto der Spiele, das «höher, schneller, weiter» ablösen soll: «Sicher, geschützt, vereinfacht.»
Die Losung klingt wie der Aushang vor einer Kantine in Corona-Zeiten. Und auch Martin Fritz, Journalist in Tokio, diagnostiziert: «Ohne wirksamen Impfstoff würde Tokio 2021 wohl von einem Megafest zu einer freudlosen Sportveranstaltung mit strengen Hygieneregeln mutieren.»
Die Stimmungslage in der japanischen Bevölkerung ist entsprechend getrübt, berichtet Fritz: «Gestern und heute sind hier Feiertage, ursprünglich eingeführt, damit es weniger Verkehr in Tokio gibt und die Bevölkerung den Olympia-Beginn erleben und geniessen kann.» Stattdessen hätten die Japanerinnen und Japaner nun Zeit zum Nachdenken. «Und die meisten sind doch sehr negativ gestimmt.»
Laut einer Umfrage will ein Drittel der Befragten Tokio 2021 absagen. Ein Drittel plädiert für eine weitere Verschiebung. Lediglich ein Viertel ist dafür, dass die Spiele im nächsten Sommer stattfinden.
Der Grund für die verbreitete Skepsis: Viele Japanerinnen und Japaner glauben nicht, dass die Pandemie in zwölf Monaten unter Kontrolle ist. «Sie sehen, dass das Virus in vielen Ländern und auch bei ihnen zuhause weiter grassiert. Und dass man insgesamt doch sehr nachlässig mit der Ansteckungsgefahr umgeht», so der freie Journalist in Tokio.
Weltoffen? Lieber ein anderes Mal
Die Politik möchte mit dem Mega-Event ein weltoffenes Japan präsentieren. In der Bevölkerung lässt «weltoffen» derzeit aber die Alarmglocken schrillen. Für viele Menschen sei die Vorstellung, im kommenden Jahr abertausende Athleten, Journalisten und Schaulustige aus aller Welt zu begrüssen, der «reinste Horror», so Fritz. «Denn sie alle könnten das Virus wieder ins Land bringen.»
Schliesslich hätten auch die Pandemie an sich und die stetigen Diskussionen um die Krisenbewältigung gehörig an der Vorfreude gerüttelt. Eine Stimmungslage, die auch vielen Schweizern seltsam bekannt vorkommen dürfte.