Der Motor der «Alwin» stottert und stirbt. Der blauweisse Fischkutter hat den Hafen von Jastarnia schon seit Wochen nicht mehr verlassen. Dabei wäre Fangsaison in den Gewässern rund um Hel, dieser Halbinsel, die sich vom polnischen Festland aus wie eine Nadel in die Ostsee bohrt.
Schliesslich springt der Motor doch noch an und Fischer Daniel Kohnke steuert seine «Alwin» hinaus in die weite Danziger Bucht. Die meisten anderen Fischerboote bleiben zurück im Hafen. Früher wäre das undenkbar gewesen. Von September bis Ende Winter wurde hier Dorsch gefangen.
Das Fischen lohnt sich nicht mehr.
Doch auch Fischer Kohnke fährt nur noch selten raus: «Der Grund ist, dass es hier keinen Dorsch mehr gibt. Ohne ihn lohnt sich das Fischen nicht mehr.»
Die Bestände des wichtigsten Speisefischs in der Ostsee waren jahrelang so dramatisch zurückgegangen, dass die Europäische Union 2019 den Dorschfang in der östlichen Ostsee praktisch vollständig verbot – in der Hoffnung, die Bestände würden sich erholen.
Kohnke leidet unter dem Fangverbot und findet es trotzdem richtig. «Es sollte aber strenger durchgesetzt werden. Vor allem die schwimmenden Fischfabriken müssten besser überwacht werden.» Er hat den Verdacht, dass diese grossen Schiffe nach wie vor gezielt nach Dorsch fischen und nicht nur – was erlaubt ist – einzelne Exemplare aus dem Meer ziehen, wenn sie andere Fische fangen.
Er selbst will heute ein Stellnetz aufspannen. Er hofft auf Hechte, Flundern oder Meerforellen.
Dorsche sind heute kaum mehr länger als ein A4-Papier
«Entscheidend für den Niedergang der Dorschbestände in der Ostsee war die Überfischung in den 1980er-Jahren», sagt der Meeresbiologe Krzysztof Radtke vom polnischen Institut für Hochseefischerei. «Das Problem ist nicht nur, dass zu viele Fische gefangen werden, sondern auch, dass vor allem die grossen Exemplare aus dem Meer gezogen werden. Jene Fische, die besonders viele und besonders grosse Eier legen.»
Gab es in der Ostsee früher Exemplare mit einer Länge von bis zu eineinhalb Metern, sind die meisten Dorsche heute nicht länger als ein A4-Papier. Wäre die Überfischung der einzige Grund für die geschrumpften Dorschbestände, das Fangverbot der EU könnte den wichtigsten Speisefisch in der Ostsee möglicherweise retten. Doch die Bestände erholen sich nicht.
Immer mehr tote Zonen
Dem Dorsch fehlen nämlich mehr und mehr die Laichgründe am Boden der Ostsee. Rund ein Fünftel des Meeresgrunds sind heute tote Zonen. Es gibt dort so wenig Sauerstoff, dass kein Leben mehr möglich ist. Hauptursache sind die vielen Algen im Meer. Wenn sie absterben, sinken sie ab und zersetzen sich am Meeresboden. Dabei entziehen sie dem Wasser Sauerstoff. «Das ist der Hauptgrund, dass sich die toten Zonen in der Ostsee ausdehnen», sagt Meeresbiologe Radtke.
Auch in anderen Meeren gibt es tote Zonen. Aber in der Ostsee wachsen sie besonders rasch. Sie bedecken schon heute eine Fläche eineinhalbmal so gross wie die Schweiz. Einerseits wird die Ostsee nur wenig durchmischt: Durch die drei schmalen Meeresstrassen bei Dänemark kommt nur wenig sauerstoffreiches Atlantikwasser in das Meer.
Andererseits wird im Einzugsgebiet der Ostsee intensiv Landwirtschaft betrieben. Und von den Feldern in den neun Anrainerstaaten gelangen schon seit Jahrzehnten zu viele Nährstoffe ins Meer; Nährstoffe, die das Algenwachstum fördern.
Die Ostsee erwärmt sich doppelt so schnell wie die Erdatmosphäre.
Dazu kommt, dass der Klimawandel die Ostsee rasant verändert. «Die Ostsee erwärmt sich etwa doppelt so schnell wie die Erdatmosphäre», sagt der Klimaforscher Jacek Piskozub von der polnischen Akademie der Wissenschaften. «Das Wasser hier ist heute fast zwei Grad wärmer als noch vor 30 Jahren.»
Die steigenden Wassertemperaturen fördern das Algenwachstum zusätzlich. Und sie verringern die Durchmischung der verschiedenen Wasserschichten. Die Folge: Noch weniger Sauerstoff am Meeresgrund, noch mehr tote Zonen.
Düstere Aussichten für die heutigen Fischarten
«Geht die Erderwärmung so rasch weiter wie bisher, werden die meisten Fische hier nicht in der Lage sein, sich anzupassen», sagt Krzysztof Radtke, der Meeresbiologe. Der Dorsch, wirtschaftlich gesehen der wichtigste Fisch in der Ostsee, habe wenig Überlebenschancen.
Im Hafen von Wladyslawowo, dort wo die Halbinsel Hel am Festland angewachsen ist, entwirren vier Fischer in gelbem Ölzeug ein hellgrünes Schleppnetz. Statt Dorsche haben sie Sprotten, kleine Heringe, gefangen. Sie werden bereits in der Fischfabrik hinter ihnen verarbeitet. «Die Köpfe werden abgeschnitten, der Rest frisch zu den Kunden transportiert oder in der Kühlhalle gelagert», erklärt Witold Wawrzonkoski.
Er ist Direktor der Fischfabrik und des Hafens. Die Fischfabrik wurde schon zu kommunistischen Zeiten für die Verarbeitung von Dorsch gebaut. Jetzt, wegen des Fangverbots, habe man umstellen müssen auf andere Fischarten. «Aber wir haben viel weniger Arbeit als früher.»
Ohne EU-Geld würden wir nicht überleben.
Die Fabrik und die fünf grossen Fischerboote, die zu ihr gehören, überleben, weil es für sie Geld von der Europäischen Union gibt: Subventionen und Kompensationszahlungen wegen des Dorsch-Fangverbots. «Ohne ginge es nicht», sagt Wawrzonkoski. Er sieht die Zukunft des Hafens von Wladyslawowo nicht in der Fischverarbeitung, sondern in den grossen Windfarmen, die vor der polnischen Küste gebaut werden sollen.
Zukunft Windenergie
«Wir wollen zu einem der grössten Servicehäfen für Off-Shore-Windfarmen werden», sagt der Hafendirektor. Das sei ein lukratives Geschäft. Und eines, das gut sei für die Kleinstadt Wladyslawowo. So ein Servicehafen bietet Vollzeitstellen und – an einem Ort, in dem man hauptsächlich im Sommer mit dem Tourismus Geld verdient, besonders wichtig – so ein Servicehafen bietet Ganzjahresstellen.
Fischer Kohnke hat inzwischen sein Stellnetz in der Danziger Bucht aufgespannt. Die «Alwyn» nimmt Kurs auf den Hafen. Im Kielwasser des Fischkutters ragen rote Fahnen aus dem Wasser. Sie markieren die Position des Netzes. Einholen wird es Kohnke morgen. Vielleicht werde der Fang ja so gut, wie beim letzten Mal. «Da haben wir 15 Stück herausgezogen. Das hat sich knapp gelohnt» sagt der Fischer.
Das meiste Geld aber, das Daniel Kohnke mit seinem Fischerboot verdient, kommt aus den Kassen der EU. Seit dem Fangverbot für den Dorsch können Fischer wie er finanzielle Unterstützung beantragen, wenn sie nicht oder nur selten rausfahren.
«Kurzfristig ist das schon in Ordnung. Aber wenn ich nicht rausfahre, habe ich auch die guten Seiten meines Berufs nicht mehr.» Keinen Seewind, keine Spannung, keine Kameradschaft. Für viele Fischer sei das schwer auszuhalten.
Dazu kommt die Unsicherheit, wie lange das EU-Geld noch fliessen wird. Kohnke glaubt nicht, dass das Geld noch lange kommen wird. Und seiner Meinung nach sollte es das auch nicht. «So viel Geld für etwas, das sich nicht mehr lohnt – das ist doch sinnlos.»
Der Beruf des Fischers stirbt aus.
Für ihn ist klar: Die lange Tradition der Fischerei hier an der polnischen Ostseeküste geht zu Ende. «Es gibt noch ein paar von uns hier auf der Halbinsel Hel. Aber dieser Beruf stirbt aus. Mit meiner Generation wird das vorbei sein.»
Bevor wir in den Hafen kommen, auch an den Fischer die grosse Frage: Wird die Ostsee sterben? Kohnke schiebt die Baseballmütze aus der Stirn, kneift die Augen zusammen und sagt schliesslich: «Wenn wir das Meer weiter so ausbeuten, dann wird es wohl so kommen.»