Wir treffen uns an der einzigen Fernstrasse, die wie ein gerades Band das Hochtal von Nachitschewan von der türkischen Grenze nach Süden durchzieht. Guchan Guc leuchten die Augen, wenn er an die Worte seines Präsidenten denkt.
Denn der türkische Präsidenten Recep Tayyip Erdogan sieht in der autonomen Nachbarrepublik den Schlüssel für einen pantürkischen Handelsweg. Erdogans Interesse: eine direkte Verbindung zum Kaspischen Meer und weiter nach Zentralasien – bis nach Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan und Kirgisistan. «Das ist unsere Seidenstrasse. Die entdecken wir Türken und unsere befreundeten Turkstaaten jetzt wieder neu.»
Guchan ist in Izmir geboren und mit einer aserbaidschanisch-ukrainischen Doppelbürgerin verheiratet. Zu Hause wird Türkisch, Aserbaidschanisch, Russisch und Ukrainisch gesprochen. «Früher war hier im Südkaukasus die Sowjetunion die Mutter aller Völker. Diese Rolle soll jetzt die pantürkische Kultur übernehmen. Sie verbindet uns Türken und Aserbaidschaner – aber auch die Völker jenseits des Kaspischen Meeres. Wir sprechen alle fast die gleiche Sprache.»
Doch die Realität ist komplizierter und der Transportunternehmer zeigt sie mir an unserem Treffpunkt. Es ist der zentrale Zollterminal. Jeder Fernlastwagen in Nachitschewan wird hier kontrolliert und verplombt. Die meisten fahren eigentlich nur weiter nach Baku, in die Hauptstadt von Aserbaidschan. Da Nachitschewan aber als aserbaidschanische Exklave keine direkte Landverbindung zum Mutterland hat, muss jeder Lastwagen einen mühsamen 400 Kilometer langen Umweg durch den Iran fahren. «Die Strassen auf iranischer Seite sind so schlecht, dass die Ladung oft Schaden nimmt. Ausserdem ist der Transport fast doppelt so teuer.»
Grenze seit 30 Jahren geschlossen
Guchan zeigt nach Süden und erklärt die hohen Kosten. «Dort verläuft die Grenze zum Iran, aber auch die zu Armenien. Die ist seit 30 Jahren geschlossen. Durch armenisches Gebiet wären es nur 30 Kilometer. Danach beginnt wieder Aserbaidschan. Wegen dieser 30 Kilometer und einer geschlossenen Grenze müssen wir mit unseren Lastwagen einen Umweg von 400 Kilometern machen!»
Wir fahren nach Süden und halten zuerst am Grenzbahnhof von Culfa. Es ist ein grosser Rangierbahnhof, wo noch immer ganze Züge mit russischen Beschriftungen vor sich hin rosten. Vor über 30 Jahren, zu Zeiten der Sowjetunion, fuhr hier der gesamte Warenverkehr auf Schiene von Moskau nach Teheran und mit einer Abzweigung nach Baku.
In Begleitung vom Grenzkommandeur
Von Culfa sehen wir die Berge an der Grenze zu Armenien. Nach weiteren knapp 50 Kilometern endet hinter der Stadt Ordubad die breite Schnellstrasse in einem Schotterweg. Zwei aserbaidschanische Grenzposten halten uns auf. Erst nach langen Funkgesprächen mit der Zentrale heisst es: Der Grenzkommandeur kommt persönlich und wird uns von nun an begleiten.
Entlang des Grenzflusses Aras geht es dann, einem Armeejeep russischer Bauart folgend, weiter. Das andere Flussufer ist schon Iran. Die Grenzposten dort rufen zu uns hinüber. Dass wir mit der Kamera auftauchen, gefällt ihnen anscheinend gar nicht! Jenseits des Flusses verläuft auch die Strasse mit den berüchtigten Schlaglöchern, auf der die Fernlaster den Umweg Richtung Baku nehmen müssen.
Nach ein paar Kilometern aber ist endgültig Schluss. Das Tal liegt jetzt im Winter schon im Schatten. Hinter der nächsten Kurve aber kann man wieder Sonnenstrahlen erkennen. Dort also soll Armenien liegen, der Erzfeind Aserbaidschans. Fast drei Kriege, Tod und Vertreibung mussten deshalb die Menschen hier im Südkaukasus erleiden. Hass und Misstrauen sollen jetzt einer Strassenverbindung weichen?
Moskau interessiert sich nicht mehr
Noch vor Beginn der Reise erklärt uns in Istanbul der Journalist Hakan Aksay, Kaukasus- und Russland-Experte in den türkischen Medien: «Bislang hatte Russland in Armenien an der Grenze zum Iran die Situation bestimmt und auch anderswo im Land sogar ‹Friedenstruppen› stationiert – wie an der Grenze zu Aserbaidschan und dem armenisch besiedelten Berg-Karabach. Seit dem Krieg in der Ukraine aber schwindet Moskaus Interesse am Südkaukasus und die Schutzmachtfunktion gegenüber Armenien wird auch nicht mehr ausgeübt. Erst so konnte Aserbaidschan noch 2023 ganz Berg-Karabach wieder einnehmen und dort die Kontrolle übernehmen. Dahinter steckt auch die Türkei, die als politischer und militärischer Verbündeter diese geopolitische Lücke ausnützt.»
So lädt kurz nach dem sogenannten Ein-Tages-Krieg von Berg-Karabach im September 2023 Ilham Aliyev, der Präsident Aserbaidschans, seinen türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan nach Nachitschewan ein. Hier soll nach der Rückeroberung Berg-Karabachs nun ein Territorialanschluss vollzogen werden. Mit dem sogenannten Sangesur-Korridor will Aliyev die aserbaidschanische Exklave mit dem Mutterland verbinden. Für Aserbaidschan wäre das die Wiedergutmachung erlittenen Leids noch aus der Zeit Stalins. Denn der sowjetische Machthaber schlug 1924 Sangesur der Armenischen Sozialistischen Sowjetrepublik zu.
100 Jahre später ist die Lage aber verworren. Denn Armenien denkt bislang nicht daran, auf eigenem Territorium Konzessionen für einen aserbaidschanischen Strassenkorridor zu machen. Welchen Status Quo würde dieser haben? Wie wäre der Grenzübergang zwischen Armenien und Iran weiter gesichert?
Auch der Iran ist vom türkisch-aserbaidschanischen Verkehrsprojekt nicht begeistert. Denn bislang verdient Teheran gut am zwangsweisen Verkehrsumweg auf eigenem Territorium und den dabei anfallenden Transit- und Zollgebühren.
Doch die vorgezogenen Präsidentschaftswahlen in Aserbaidschan am 7. Februar könnten den Forderungen aus Baku und Ankara weiteren Auftrieb geben. So erklärt Präsident Ilham Aliyev am 11. Januar 2024: «Wir brauchen diesen Korridor. Fracht, Bürger und Fahrzeuge, die sich von Aserbaidschan nach Aserbaidschan bewegen, sollten frei passieren können – ohne Kontrolle und Zoll. Wenn die Armenier diese Route nicht aufmachen, machen wir unsere Grenze zu Armenien an anderen Stellen auch nicht auf. Dann haben sie mehr Schaden als Nutzen davon.»
Die neue Geopolitik offener Grenzen und neuer Verkehrswege – so die Losung – verspreche allen Beteiligten einen Vorteil. Armenien könne vom neuen Warenverkehr durch eigenes Gebiet profitieren, nicht nur als Transitland. Nachitschewan wäre dann keine Exklave mehr. Für Transportunternehmer wie Guchan Guc ginge ein Traum in Erfüllung: Der Türke könnte Waren zusammenzustellen für die Märkte nicht nur in Baku, sondern auch jenseits des Kaspischen Meers weiter in Zentralasien.