Seit einem Vierteljahrhundert ist der Kampf gegen Chemiewaffen die Lebensaufgabe des US-Amerikaners Paul Walker. Er nimmt sie nicht nur am Verhandlungstisch oder an Rednerpulten wahr, sondern immer wieder auch in der Praxis, im Feld, an der Front. So war er einer der ersten Amerikaner, die sich in Russland um die Zerstörung des damals weltweit grössten Chemiewaffenarsenals kümmerte – 40’000 Tonnen hochgiftige Stoffe.
Entsprechend nahe ging es ihm, als in Syrien auf Experten der internationalen Chemiewaffenbehörde OPCW geschossen wurde und einer von ihnen um ein Haar getötet worden wäre.
Der 76-Jährige ist schwer besorgt um das weltweite Chemiewaffenverbot. Zwar sorgt das Thema derzeit kaum für Schlagzeilen: «Doch genau das ist ein Problem: Es braucht den ständigen Druck von Bürgerinnen und Bürger auf die Regierungen, damit Chemiewaffen überall geächtet und tabu bleiben.»
98 Prozent aller Bestände vernichtet
Das internationale Chemiewaffenverbot von 1997 ist der umfassendste Abrüstungsvertrag überhaupt. 193 Staaten sind Mitglieder. Das Abkommen ist griffiger und umfassender als das Verbot biologischer Waffen und der Atomsperrvertrag für Nuklearwaffen. Inzwischen wurden weltweit 98 Prozent aller Chemiewaffenbestände vernichtet. Die letzten noch vorhandenen deklarierten Arsenale befinden sich in den USA. Dort soll die vollständige Vernichtung nächstes Jahr abgeschlossen sein.
Doch noch immer verweigert sich ein Land mit sehr grossen Chemiewaffenvorräten dem Verbot, nämlich Nordkorea. 2017 tötete das Regime einen Halbbruder des Diktators Kim Jong-Un in Malaysia mit einem C-Kampfstoff. Auch Israel und Ägypten sind dem Chemiewaffen-Verbot nicht beigetreten. Möglicherweise besitzen sie solche Waffen.
Nicht alle halten sich an das Abkommen
Fast noch schlimmer ist, dass zudem zwei Mitgliedsländer des Verbotsabkommens tricksen. Sie halten heimlich C-Waffen zurück und setzen sie sogar ein: Syrien und Russland. Der syrische Diktator Bashar al-Assad tat das mehrfach; in einigen Fällen auch die Terrormiliz IS. Russland benutzte den Nervenkampfstoff Novitschok: mutmasslich 2006 gegen den zu den Briten übergelaufenen Ex-Spion Alexander Litvinienko. Erwiesenermassen 2018 gegen den Doppelagenten Sergej Skripal und 2020 gegen den Oppositionspolitiker Alexei Nawalny. «Russland besitzt also weiterhin Chemiewaffen», sagt Paul Walker.
Nicht bestätigen kann Walker indes das Gerücht, Russland habe auch in der Ukraine C-Waffen eingesetzt, etwa in Mariupol: «Hinweise gibt es auf weissen Phosphor, der aber nicht als Chemiewaffe gilt. Hingegen kann er – ähnlich wie Chlorgas – de facto als Chemiewaffe wirken, wenn er direkt gegen Menschen eingesetzt wird.»
Paul Walker hat selbst erlebt, wie Russland zuvor «jahrelang bestens kooperierte und – mit westlicher Hilfe – seine Giftstoffarsenale zerstörte. Doch inzwischen foutiert sich Russland um seine Verpflichtungen und wirft der OPCW in Den Haag, der es selbst angehört, dauernd Knüppel zwischen die Beine.» Moskau widersetze sich beim Gehalt des OPCW-Generaldirektors, beim Budget, bei Inspektionen vor Ort und kooperiere selbst nicht. Es sei bisweilen fast lächerlich, – aber keineswegs lustig –, wenn der russische Botschafter bei der OPCW Lüge um Lüge auftische, die natürlich niemand glaubt.
Notfalls reicht eine Garage
Solange es noch irgendwo solche Waffen gebe, bestehe ein enormes Risiko, dass sie auch in die Hände von Terroristen geraten. Verschärft wird die Problematik durch Fortschritte in der Chemie und in der Technik. Um Chemiewaffen herzustellen, braucht es heute – anders als bei Atomwaffen – nicht länger riesige Industrieanlagen. Notfalls reicht eine Garage. Das macht Inspektionen, die Überwachung und damit die Durchsetzung des Chemiewaffenverbots enorm schwierig.
Kein Wunder, dass Paul Walker skeptisch ist. Es droht die Rückkehr der C-Waffen auf die Schlachtfelder. Sie sind kaum von militärischem Nutzen. Doch eingesetzt als Terrorwaffe zur Verängstigung der Bevölkerung sind sie überaus wirksam.