Sprechchöre, Spottlieder, Debatten, Tanzperformances: Der Protest von Studierenden der Bogazici, der Bosporus-Universität, ist ebenso bunt wie entschlossen. Er findet direkt auf dem Campus statt. Geschickt nutzen die Protestierenden aber auch das Internet. Sie übertragen ihre Aktionen in die virtuelle Welt, zeigen zugleich Bilder von Polizeigewalt.
Professorinnen und Professoren schlossen sich dem Protest an, versammeln sich auch jetzt noch mehrmals pro Woche vor dem Büro des neuen Rektors, kehren diesem demonstrativ den Rücken zu. Der Rektor ist ein treuer Parteisoldat von Präsident Erdogan. Er hat sich nicht durch besondere akademische Leistungen hervorgetan.
Die Auseinandersetzung gewann an Schärfe, als die Regenbogenfarben der Schwulen- und Lesbenbewegung an einer Kunstaktion auftauchten, in der Nähe einer religiösen Darstellung. Der Vorwurf der Gotteslästerung liess nicht auf sich warten. Innenminister Süleyman Soylu sprach von Perversen und zog die Auseinandersetzung damit noch stärker ins Feld des Kulturkampfes. Angebliche westliche Dekadenz gegen angebliche islamische Tugendhaftigkeit.
Auch AKP-Mitglieder gegen Einmischung
Mit Homophobie lässt sich in der Türkei gewiss Stimmung machen. Doch wie weit es diesmal verfängt? Der Sozialwissenschaftler Kemal Kirişc zitiert neueste Umfragen, wonach drei Viertel der Bevölkerung meinen, man solle die Universitäten selbst über ihre Geschicke befinden lassen. Sogar eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler von Erdogans AKP und von dessen nationalistischer Bündnispartei MHP finden demnach, die Ernennung von Rektoren sei Sache der Universitäten.
Immer wieder erscheinen Erhebungen, die nahelegen, dass vor allem die Jungen sich von Erdogan abwenden. Unter dem Eindruck, er habe ihnen nichts mehr zu bieten. Letzten Frühling machte eine Umfrage Schlagzeilen, wonach zwei Drittel der Jungen das Land verlassen möchten – sogar die Hälfte jener, die Erdogans AKP wählen. Wichtigster Grund dafür die anhaltende Wirtschaftskrise, die durch Corona nur noch verstärkt wird.
Der Präsident bestreitet den Wert solcher Momentaufnahmen – und räumt doch ein, dass er Schwierigkeiten habe, die jüngste Generation von den wirtschaftlichen und kulturellen Errungenschaften seiner Regierungszeit zu überzeugen. Sie sei zu jung, um eine Vorstellung zu haben davon, wie schlecht die Verhältnisse vor ihm gewesen seien.
Um ihr einen Eindruck davon zu geben, trat Erdogan vor ein paar Tagen in seiner Heimatregion am Schwarzen Meer auf, an der dortigen Universität. Sie heisst Recep-Tayyip-Erdogan-Universität. Allein das Geld für die Universitätsbildung sei in seiner Regierungszeit mehr als verzehnfacht worden. Wie viele heute in der Türkei studierten, das habe selbst die deutsche Kanzlerin Angela Merkel verblüfft.
Kampf kurzfristig nicht zu gewinnen
Tags darauf liess Erdogan an der Bosporus-Universität in Istanbul eigenmächtig zwei neue Fakultäten einrichten, eine für Jurisprudenz und eine für Kommunikation. Fakultäten, die dort niemand verlangt hatte, so die Protestierenden. Sie sehen darin nur den definitiven Beweis, dass künftig allein im Präsidentenpalast in Ankara über ihre Geschicke entschieden wird.
Weitermachen mit ihrem Protest wollen sie trotzdem, wenn auch illusionslos, so der Politikwissenschaftler Mert Arslanalp. Denn kurzfristig sei dieser Kampf nicht zu gewinnen.