Aus der Türkei kommen plötzlich andere Töne: Präsident Recep Tayyip Erdogan spricht von einem Kurswechsel in der Geldpolitik, von einem Aktionsplan für Menschenrechte, von einer Stärkung des Rechtsstaates. Er sendet gar versöhnliche Botschaften Richtung Europa. Die Zukunft seines Landes liege in Europa, sagte er an einem Parteikongress. Hürcan Aslı Aksoy von der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik erklärt, was dahintersteckt.
SRF News: Warum diese neuen Töne aus Ankara?
Hürcan Aslı Aksoy: Innenpolitisch betrachtet braucht Erdogan einen neuen Ton, um die Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu glätten. Aussenpolitisch betrachtet benötigt Erdogan die alten Partner aus der EU, weil in der Region mehrere Konflikte geführt werden und die Türkei dabei alleingelassen wird.
Also steht Erdogan innenpolitisch wie aussenpolitisch unter grossem Druck. Die Türkei ist geplagt von einer starken Wirtschaftskrise. Wie ernst ist es Erdogan mit seinen angekündigten Reformen?
Den ersten Schritt haben wir vor einer Woche gesehen. Die Zentralbank hat die Zinsen erhöht, was Erdogan sehr lange verweigert hatte. Daher sehen wir eine kleine, positive Entwicklung. Aber die Lira steckt seit einem Jahr in der Krise. Dafür müsste mehr gemacht werden.
Wird er das tun?
Er hat am Mittwoch in seiner Parteiversammlung gesagt, dass er neue Pläne für Investment, Produktion, Export und Beschäftigung hat. Aber er hat es nicht konkret formuliert. Was die genauen Pläne sind, wissen wir also nicht.
Erdogan will mehr ausländische Investoren anlocken. Dafür will er rechtsstaatliche Reformen anstossen. Wie ernst ist es ihm hier?
Das kann nicht sehr ernst sein, wenn er über Justizreformen spricht und gleichzeitig Prominente wie Osman Kavala oder der ehemalige Vorsitzende der kurdischen Partei, Selahattin Demirtaş, immer noch im Gefängnis stecken. Erdogan hat am Mittwoch nochmals deutlich gemacht, dass die Regierung viele, die im Gefängnis sind, als Terroristen ansieht.
Wie nehmen Türkinnen und Türken Erdogans Aussagen auf?
Sie werden stark kritisiert. Die Gesellschaft kann das nicht ganz ernst nehmen, solange nicht klare Fakten geschaffen werden: Etwa, dass Politiker und Menschenrechtsaktivisten freigelassen werden oder die Meinungsäusserungsfreiheit wieder eingeführt wird.
Auch gegenüber Europa klingt Erdogan anders, gleich mehrmals bekannte er sich in den letzten Tagen zu Europa. Was bezweckt er damit?
Es ist ziemlich klar, dass die Türkei in der Region allein ist und wirtschaftliche Unterstützung braucht. Nach den Wahlresultaten in den USA weiss die Türkei auch, dass sich Bidens Regierung anders verhalten wird als diejenige von Trump, mit der er gute Beziehungen entwickeln konnte.
Die Türkei hat Angst, dass aus den USA eine ökonomische Sanktion kommen wird.
Das heisst, dass eventuell Sanktionen verhängt werden durch den Halkbank-Prozess. Die Bank hatte bei Geldflüssen in den Iran mitgewirkt. Daher hat die Türkei Angst, dass aus den USA eine ökonomische Sanktion kommen wird.
Die Türkei tritt im Grenzstreit mit Griechenland sehr harsch auf. Beim Besuch in Nord-Zypern, das von der Türkei völkerrechtswidrig besetzt ist, sprach sich Erdogan für eine Zweistaatenlösung aus. Wie passt das zusammen?
Man muss bedenken: Wenn Erdogan seine Reden hält, spricht er in erster Linie nach innen. Diese starke Positionierung der Türkei – sei es im östlichen Mittelmeer, auf Zypern oder in Aserbaidschan – ist in erster Linie Innenpolitik. Wenn Erdogans Gesandte in Europa oder in den USA sprechen, sehen wir dann kleine Unterschiede.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.