Vorsichtig setzt Rentner Kevin Jordan einen Fuss vor den anderen. Der 70-Jährige spaziert mit einer Gehhilfe über den Sandstrand von Hemsby im Osten Englands. Das Gehen fällt ihm schwer. «Mein Fuss braucht dringend eine Behandlung, damit ich wieder normal gehen kann», erzählt der ehemalige Software-Ingenieur. «Ich möchte gerne wieder einen Hund spazieren führen. Der Strand wäre ideal dafür. Ich hatte mein Leben lang Hunde.»
Kevin Jordan wartet seit mehr als sieben Monaten mit wachsender Ungeduld auf den Anruf eines Orthopäden des regionalen Krankenhauses, um einen Termin zu bekommen. Der Spezialist wird seinen linken Fuss untersuchen und danach entscheiden, ob es eine Operation braucht. Im Fuss hat sich ein Tumor gebildet. «Wenn der Orthopäde zum Schluss kommen sollte, dass eine Operation unumgänglich ist, müsste ich wohl erneut mehrere Monate warten.»
Fast 400'000 Menschen warten seit über einem Jahr
Kevin Jordan ist kein Einzelfall: Die Wartezeiten im britischen Gesundheitswesen werden lang und länger. Fast 400'000 Menschen warten seit über einem Jahr auf einen Termin. Rund 7.5 Millionen Menschen warten insgesamt darauf, von einer medizinischen Fachperson begutachtet oder behandelt zu werden. Tendenz steigend.
Das hat verschiedene Gründe: Während der Pandemie sind die planbaren Eingriffe, wenn immer möglich, aufgeschoben worden, um die Spitäler zu entlasten. Dieser Rückstand ist bisher nicht aufgeholt worden.
Erschwerend kommt dazu, dass sich seit der Pandemie die Kündigungen von Ärztinnen und Ärzten sowie des Pflegepersonals häufen. Vielen ist die Arbeitsbelastung zu gross geworden. Gegenwärtig sind rund 55'000 Vollzeitstellen von medizinischem Fachpersonal nicht besetzt. Das entspricht gut 10 Prozent aller Stellen.
Das Rekrutieren von medizinischem Fachpersonal im Ausland ist nach dem Brexit aufwendiger geworden: Seit Januar 2021 braucht ein Visum, wer im Vereinigten Königreich arbeiten will. Das verlängert die Rekrutierung von ausländischen Fachkräften. Im vergangenen Jahr sind rund 25'000 Pflegefachfrauen und -männer aus Nicht-EU-Ländern eingestellt worden – so viele wie noch nie.
Und schliesslich: Die Spitäler sind überlastet, weil viele Betten von Langzeitpatientinnen und -patienten belegt sind, die eigentlich in Pflegeeinrichtungen verlegt oder daheim gepflegt werden könnten. Doch um diese Einrichtungen auszubauen, fehlt das Geld. Was zur Folge hat, dass nicht genügend Spitalbetten für geplante Eingriffe zur Verfügung stehen, was wiederum die Wartezeiten verlängert.
Premierminister Rishi Sunak verspricht Besserung
Der konservative Regierungschef Rishi Sunak ist nun seit bald einem Jahr im Amt. Und er hat seither wiederholt beteuert, das staatliche Gesundheitswesen ins Lot zu bringen, habe für ihn Priorität. Dazu gehöre auch, die Wartezeiten auf ein erträgliches Mass zu senken. «Wir werden mehr Mittel zur Verfügung stellen», versprach Sunak am 30. Januar 2023 nach dem Besuch eines Krankenhauses.
Rentner Kevin Jordan glaubt nicht, was Rishi Sunak verspricht: «Uns ist von der Regierung schon so vieles versprochen worden; 40 neue Spitäler, zum Beispiel. Wo sind sie geblieben?» Der 70-Jährige hofft weiterhin auf eine baldige Behandlung des Tumors in seinem linken Fuss, um wieder schmerzfrei gehen zu können.