Bahnbranche, Postwesen – und nun auch das Pflegepersonal: Die Streikwelle in Grossbritannien zieht immer grössere Kreise. Die Pflegefachpersonen des britischen Gesundheitsdienstes NHS stehen für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen ein.
Der Verband Royal College of Nursing rief erstmals in seiner Geschichte Zehntausende Mitglieder in England, Wales und Nordirland auf, am Donnerstag ab morgens für zwölf Stunden ihre Arbeit niederzulegen.
«Die Streiks sind ziemlich einschneidend», sagt SRF-Korrespondent Patrik Wülser in London. So könne bis Ende Dezember ziemlich viel zum Erliegen kommen, was «das öffentliche Leben oder die öffentlichen Dienste ausmacht». Konkret bedeutet das etwa: den Versand von Paketen, Eisenbahnfahrten – und inzwischen auch Leistungen im Gesundheitsbereich.
Pflegefachpersonen wollen niemanden im Stich lassen
Wie die Nachrichtenagentur DPA schreibt, sind in England etwa ein Viertel der Krankenhäuser vom Streik betroffen. Der Staatssekretärin für Gesundheit Maria Caulfield zufolge sollen rund 70'000 Termine, Behandlungen und Operationen im grössten britischen Landesteil ausfallen.
Ist in Grossbritannien die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung gefährdet? Wülser relativiert: «Die Pflegefachpersonen versichern, dass medizinische Notfälle auch während des Streiks behandelt werden und niemand im Stich gelassen wird.» Tatsache sei jedoch, dass in den kommenden Tagen Tausende von Behandlungen und Operationen verschoben werden.
Britisches Gesundheitssystem am Anschlag
Das britische Gesundheitssystem steckt in einer tiefen Krise, welche sich wegen Corona weiter akzentuiert hat. «Das staatliche Gesundheitswesen ist seit Jahren am Anschlag. Es ist chronisch unterfinanziert und überfordert», betont Wülser.
Das staatliche Gesundheitswesen ist seit Jahren am Anschlag. Es ist chronisch unterfinanziert und überfordert.
Im Gesundheitsbereich wird also schon lange gespart. Entsprechend lehnt die konservative Zentralregierung in London die Forderung der Beschäftigten einer Gehaltserhöhung um 19 Prozent als nicht finanzierbar ab. Sie hat nach eigenen Angaben ein Angebot vorgelegt, das im Einklang mit der Empfehlung eines unabhängigen Gremiums steht.
In Schottland hatte sich die Gewerkschaft derweil kurzfristig mit der Regionalregierung geeinigt. Notfälle sollten trotz des Ausstands behandelt werden. Das Militär soll einspringen, um etwa Krankenwagen zu fahren – allerdings nicht in Notfallsituationen.
Regierung steht unter Druck
Mitten in der Weihnachtszeit streiken auch die Angestellten der Eisenbahnen. «Auch sie wollen mehr Lohn», erklärt Wülser. Die Inflation beträgt derzeit 11 Prozent, und entsprechend sind die Lebensmittelpreise gestiegen. «Sie wollen, dass die Löhne dieser Teuerung angepasst werden», führt er aus.
Wird gestreikt, reduziert sich das Angebot automatisch. Das spürt vor allem die Bevölkerung. Wie gross ist das Verständnis der Britinnen und Briten für die Arbeitskämpfe? Wülser: «Bis jetzt erstaunlich gross. Dies zeigen Umfragen.» Klar sei, dass die Regierung wegen der Streiks extrem unter Druck geraten sei. Diese weist jedoch die Schuld von sich und schiebt die Verantwortung den Gewerkschaften zu. Was bleibt, sind somit zornige Debatten im Parlament, ein Drahtseilakt der Arbeiterschaft – und viel Unsicherheit in der aktuellen Weihnachtszeit.