Israel kontrolliert den Gazastreifen akribisch. Fachpersonen gehen gar von Hunderten israelischen Informanten innerhalb der radikal-islamischen Palästinensergruppe Hamas aus. Der Sicherheitsexperte Peter Neumann erklärt, weshalb das Land offenbar dennoch komplett vom neuesten Grossangriff überrascht wurde.
SRF News: Hat Israel gar nichts von dem Angriff gewusst?
Peter Neumann: Es ist ein unglaublicher Skandal, und es ist eigentlich unvorstellbar, dass Israel davon nichts wusste. Wenn es tatsächlich so war, dann werden in Zukunft ein paar Köpfe rollen. Denn es war immer so, dass die Israelis gesagt haben: «Im Gazastreifen kennen wir uns aus wie nirgendwo sonst. Wir würden sogar wissen, wenn da ein Sack Reis umfällt. Das ist ein Gebiet, das wir komplett mit unseren Spionen und Informanten durchdrungen haben.»
Es ist ein riesiges Versäumnis.
Dass Israel vom Angriff nichts wusste, ist schon ein riesiges Versäumnis. Einige in Israel sprechen auch von einem israelischen Pearl Harbor – also einem Überraschungsangriff, der eigentlich keine Überraschung hätte sein sollen. Ich kann mir gut vorstellen, dass viele in Israel in der letzten Zeit durch die innenpolitische Situation, wie die Demonstrationen gegen das Justizprojekt von Premierminister Netanjahu, von der Sicherheitssituation abgelenkt waren. Das ist aber reine Spekulation.
Was kann die Hamas mit dem Angriff auf Israel überhaupt erreichen?
Die Hamas kann nicht so besonders viel erreichen. Aber es ist wichtig zu verstehen, dass sich die Hamas und der Staat Iran in den letzten Jahren sehr angenähert haben. Und der Iran hat eine Strategie: Der Staat möchte die Normalisierung zwischen Israel und den arabischen Staaten kaputt machen. Und das ist jetzt möglicherweise ein Instrument, genau das zu tun. Denn ein Krieg in Israel, eine Auseinandersetzung mit der Hamas und möglicherweise auch mit der Hisbollah, die beide vom Iran sehr intensiv unterstützt werden – das würde erst mal ein Ende für diese Normalisierungsbestrebungen bedeuten, vielleicht sogar eine Eskalation in der Region.
Wenn die Hamas nichts erreichen kann, weshalb greift sie Israel trotzdem an?
Die Hamas ist eine Organisation, die zwar vorgeblich gegen Israel kämpft, die aber gleichzeitig eine Gruppe von Machthabern im Gazastreifen ist. Ihnen ist daran gelegen, eine ständige Kriegssituation aufrechtzuerhalten. Denn daraus schöpfen sie ihre Legitimität.
Was ganz sicher ist: Israel wird in den nächsten Tagen und Wochen zurückschlagen.
Die Hamas ist diejenige Gruppe, die angeblich Palästinenser gegen Israel verteidigt. Und um diese Verteidigungssituation zu schaffen, muss man nach der Logik der Hamas erst mal angreifen. Denn was ganz sicher ist: Israel wird in den nächsten Tagen und Wochen zurückschlagen. Dann wird die Hamas wieder zur Stelle sein und behaupten, sie würde die Palästinenser verteidigen. Eine ganz makabre Logik, die im Prinzip das Geschäftsmodell der Hamas definiert.
Wird der Iran eingreifen – und ist ein Flächenbrand zu befürchten?
Ich glaube, dass es nicht im Interesse des Irans wäre, sich die Finger direkt schmutzig zu machen. Aus diesem Grund verfolgt der Iran seine Strategie mit der Hamas und der Hisbollah.
Ich sehe momentan keine Situation, wo andere arabische Staaten oder der Iran sich am Konflikt beteiligen würden.
Es ist und wird ein wirklich brutaler Konflikt in Israel und an den Grenzen zu Israel. Aber ich sehe momentan noch keine Situation, wo andere arabische Staaten oder der Iran sich selbst an diesem Konflikt beteiligen würden. Stand heute sage ich, dass uns wahrscheinlich kein regionaler Flächenbrand droht. Das beruht aber auf sehr vielen Annahmen, die sich möglicherweise als falsch herausstellen können.
Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.