Der Konflikt dauert schon sieben Jahre, droht jetzt aber wieder zu eskalieren. Die Rede ist von der Ostukraine, wo sich Truppen der Kiewer Zentralregierung und prorussische Separatisten gegenüberstehen. Russland hat grössere Truppenverbände in die Region verlegt, die Ukrainer suchen die Unterstützung des Westens.
Viele im Westen gehen davon aus, dass der Kreml aus heiterem Himmel beschlossen hat, den Konflikt neu anzuheizen. Doch die Sache sei komplizierter, sagt Maxim Samorukov, Analytiker für das Carnegie-Zentrum in Moskau.
Politikwechsel in Kiew
Samorukov verweist darauf, dass die Regierung in Kiew vor einigen Monaten auf Konfrontationskurs mit Moskau gegangen sei: «Das ist ein Politikwechsel. Zuvor hatten die Ukrainer noch echte Verhandlungen geführt, man vereinbarte einen Waffenstillstand.»
Doch nun liess der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski im Februar drei prorussische TV-Stationen schliessen. Zudem gingen die ukrainischen Behörden gegen prorussische Politiker vor.
Ein Signal aus Moskau
Der Kreml befürchte wohl, dass sich der ukrainische Präsident zu einem militärischen Angriff auf die Separatisten-Gebiete entschliessen könnte, schätzt Samorukov. «Mit dem Truppenaufmarsch will Moskau den Ukrainern, aber auch den Amerikanern ein Signal senden. Und zwar, dass es eine militärische Lösung des Konfliktes nicht zulassen werde.»
Moskau also tut so, als sei die Ukraine der Aggressor. Für den Westen ist es umgekehrt, hat Moskau doch 2014 immerhin die ukrainische Krim annektiert.
Stockende Verhandlungen
Zugleich seien die Verhandlungen zuletzt keinen Millimeter vorangekommen, ergänzt Samorukov. Die beiden Seiten könnten sich nicht einmal darauf einigen, wer überhaupt mit wem sprechen wolle: Die Ukraine will direkt mit Russland verhandeln. Russland stellt den Konflikt als innerukrainischen Bürgerkrieg dar und sagt, Kiew müsse mit den Separatisten reden.
Kreml lässt Konflikt weiterkochen
Russland macht in der Ostukraine also nichts anderes, als eiskalt seine Interessen durchzusetzen. Und dazu gehört laut Samorukov auch, dass Moskau kein Interesse an einem baldigen Ende des Konflikts hat: «So lange es in der Ukraine einen ungelösten Territorialkonflikt gibt, wird das Land nicht in die Nato aufgenommen.»
Je länger der Konflikt dauere, desto mehr dürfte der Westen sein Interesse daran verlieren. Und wenn der Westen erst einmal aus dem Spiel sei, habe Russland wieder viele neue Möglichkeiten.
Je länger der Konflikt dauert, desto mehr dürfte der Westen sein Interesse daran verlieren.
Grosse Teile der heutigen Ukraine haben über Jahrhunderte zum russischen Imperium gehört. Den Verlust dieser Gebiete hat der Kreml nie verwunden. Eine historische Perspektive scheint im russischen Denken auch heute noch stark verankert zu sein.
Über Präsident Putin sagt Samorukov: «Wladimir Wladimirowitsch ist schon fast 22 Jahre an der Macht. Er ist es sich gewohnt, in langen Zeiträumen zu denken.»
Es bleibt angespannt und gefährlich
Dennoch gibt es jetzt einen massiven Truppenaufmarsch. Könnte Moskau nicht doch in Versuchung geraten, militärisch Revanche zu üben? Samorukov winkt ab: Moskau habe kein Interesse an einem grossen Krieg – auch Kiew übrigens nicht.
Moskau hat kein Interesse an einem grossen Krieg – auch Kiew nicht.
Zugleich gibt der Analyst zu bedenken: «Die Lage ist angespannt, die Soldaten auf beiden Seiten sind angespannt. Da kann immer etwas passieren: Einer schiesst, die anderen antworten – und schon gerät eine Spirale der Gewalt in Gang, die man nur noch schwer stoppen kann.»