Kadri Liik ist überzeugt: Der Aufmarsch russischer Truppen ist ernst zu nehmen. Aber mit dieser Mobilisierung wolle Russland vor allem ein Signal senden. Sie sei weniger der Vorbote einer unmittelbar bevorstehenden Invasion, sagt die estnische Russlandexpertin, die lange in Moskau gelebt und gearbeitet hat.
Putin gehe es dabei in erster Linie um Russlands Einfluss auf die politische Entwicklung der Ukraine. Ausserdem schwebe ihm ein Abkommen mit dem Westen vor, das die geopolitische Ordnung Europas festschreibe; das etwa regeln würde, welche Truppen auf ukrainischem Boden anwesend sein dürften und welche nicht.
Russland habe begriffen, dass sich westliche Militärs in der Ukraine bewegten – ganz unabhängig von einem Nato-Beitritt – und auch, dass der ukrainische Präsident das Minsker Friedensabkommen nicht so umsetzen werde, wie Russland es wolle. Das Abkommen also, welches 2015 mit dem Ziel geschlossen wurde, die Kämpfe in der Ostukraine zu beenden, und das einen politischen Prozess vorsieht.
Russland versucht im letzten Moment das Ruder herumzureissen.
Deshalb versuche Moskau im letzten Moment das Ruder herumzureissen, so die Expertin. Putin versuche, über die USA Druck auf die Ukraine auszuüben, damit das Land den russischen Forderungen nachgebe.
Doch das ist nach Einschätzung der Expertin unrealistisch. Schon deshalb, weil das ukrainische Parlament dafür zahlreichen Gesetzesänderungen zustimmen müsste, die es nicht wolle. Doch das könne Moskau nicht begreifen, so Liik.
«Ich glaube, dass die Ukraine der grösste blinde Fleck Moskaus ist. In der Analyse vieler aussenpolitischer Entwicklungen hat Russland die Situation und die Akteure richtig eingeschätzt, zum Beispiel im Nahen Osten, wo der Westen falsche Annahmen traf, was die Demokratisierung der Region angeht und wo Russland nun als starker Player dasteht. Aber in Bezug auf die Ukraine sieht das ganz anders aus», sagt Liik.
Vor allem Russlands Präsident Putin lasse sich von emotionalen Fehlannahmen leiten, wenn es um die Ukraine gehe. Moskau verstehe zum Beispiel nicht, welch bedeutende Rolle die Zivilgesellschaft in der Ukraine spiele.
Russland ist frustriert
Die Ukraine funktioniere anders als Russland, wo alles von oben nach unten entschieden werde. Deshalb sei Moskau zunehmend frustriert von der ukrainischen Polit-Elite, die nicht das liefere, was Russland wolle.
Kadri Liik, die für die Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) arbeitet, sagt aber auch: Auch im Westen gebe es viele Fehlannahmen – zu Russland. So gingen viele davon aus, dass ein russischer Masterplan hinter der Migrationskrise in Belarus oder hinter der schwierigen Situation auf dem Gasmarkt stecke.
Fehlannahmen, Missverständnisse und das vor dem Hintergrund Spannungen. Soll US-Präsident Biden also beim Gespräch am Dienstag auf Putins Forderungen eingehen? Sie glaube nicht, dass Biden das tun werde oder überhaupt könne, sagt Liik. Ihr Ratschlag für Biden wäre: auf Zeit zu spielen.
Unrealistische Ziele
Denn Moskaus Ziele seien schlicht unrealistisch. Es sei im 21. Jahrhundert nicht mehr möglich, seinen Nachbarn einfach so zu kontrollieren. So etwas wäre nur mit massivem Einsatz von militärischer und ökonomischer Macht möglich. Mit weniger gehe es nicht. Nicht, weil der Westen das verweigern würde, sondern weil die Ukraine eine solche russische Kontrolle nicht wolle.
Und weil die Situation so vertrackt ist, gibt es aus der Sicht der Expertin nur eine Möglichkeit: temporäre Massnahmen zur Deeskalation zu vereinbaren. Aber eine echte Lösung des Problems sehe sie nicht.