In einer Wohnstrasse im südukrainischen Orichiw stehen ein paar Dutzend Leute andächtig im Halbkreis. Die meisten sind im Pensionsalter. Gekommen sind sie, weil das «Zentrum für städtische Hilfe», eine religiöse NGO, Nahrungsmittel und Medikamente gebracht hat.
Dmytro Matjuchin will gerade erklären, wie die Hilfsgüter ausgegeben werden – da knallt es laut. Es ist ausgehendes Feuer. Das heisst, die ukrainische Armee schiesst von irgendwo in der Nähe auf die Russen, die nur wenige Kilometer südlich der Stadt stehen.
Früher oder später werden die Angreifer zurückschiessen. Die Zeit reicht gerade noch, um Plastiksäcke mit Essen und die Hausapotheken zu verteilen.
Die Leute kann nichts mehr erschüttern
Die Leute hier haben sich ohnehin an die Explosionen gewöhnt. Die Situation in Orichiw sei «ganz in Ordnung», sagt der 72-jährige Viktor, der mit einem weissen Plastiksack voller Lebensmittel aus der Menschenmenge kommt.
Er habe zwar keinen Strom, kein Gas und kein Wasser. Und auch sein Auto sei nach einem Granatentreffer ausgebrannt. «Aber vor Hunger sterben werde ich nicht.»
Wir können uns nicht beklagen. Klar, es wird geschossen, aber das kann man nun mal nicht ändern.
So reden Leute, die nichts mehr erschüttern kann. Auch Halina, ebenfalls längst im Pensionsalter, zeigt diesen typisch ukrainischen Fatalismus. «Klar ist das Leben hart. Aber wir sind den freiwilligen Helfern sehr dankbar, die uns Lebensmittel bringen. Wir können uns nicht beklagen. Klar, es wird geschossen, aber das kann man nun mal nicht ändern.»
Russische Brandmunition und Fliegerbomben
Die Explosionen scheinen Halina nicht sonderlich aus der Ruhe zu bringen. Auch, wenn die Stadt manchmal schwer beschossen werde. «Vor zwei Tagen gab es 72 Treffer in der Stadt. Die Russen schiessen auch mit Brandmunition und werfen Bomben aus Flugzeugen ab», sagt sie.
Eine Nachbarin mischt sich ein, die beiden Frauen plaudern in dieser an sich sehr lieblichen Wohnstrasse. Zwischen den kleinen Häuschen mit den grossen Gärten plaudern sie, als wäre Frieden. Doch es ist nicht Frieden.
Etwas abseits steht Alexander Billeris und beobachtet die Szene mit Sorge. Er ist stellvertretender Leiter der Regionalverwaltung von Orichiw.
Das Städtchen hatte mit umliegenden Dörfern vor dem Krieg 21'000 Einwohner. Jetzt sind noch etwa 2000 da. «Die meisten von ihnen sagen, sie seien hier geboren. Sie lassen sich nicht aus ihrer Stadt vertreiben.» Billeris findet, seine Mitbürger seien recht stur.
«Ich bin überhaupt nicht glücklich darüber, dass die Leute noch hier sind. Erstens bringen sie sich selbst in Gefahr, und zweitens müssen ich und die freiwilligen Helfer unser Leben riskieren, um den Menschen zu helfen», sagt der Behördenvertreter.
Massive Kriegsschäden in der Stadt
In der Tat brauchen die Menschen in Orichiw Hilfe. Die Schäden sind massiv – es gibt kaum ein Haus in der Stadt, das nicht einen Treffer abbekommen hat. Öffentliche Gebäude sind ausgebrannt, die Geschäfte fast alle geschlossen, auf den Strassen liegt Schutt.
Ich bin überhaupt nicht glücklich darüber, dass die Leute noch hier sind. Sie bringen sich selbst und unsere Helfer in Gefahr.
Und Orichiw ist nicht der einzige ukrainische Ort, der derart gelitten hat unter dem Krieg. «Auf der ganzen Frontline, überall da, wo es grössere Städtchen gibt, ist die Lage sehr schwierig», sagt Dmitro Matjuchin vom «Zentrum für städtische Hilfe».
Seine NGO fährt deswegen mit ihrem kleinen Lieferwagen die Front hoch und runter, um Leuten zu helfen, die trotz allem bleiben wollen.
Nun aber ist es Zeit, aus Orichiw zu verschwinden – denn die Russen dürften bald zurückschiessen.